«Vielen ist die Armut nicht bewusst»

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09.09.2021
Die Religionsgemeinschaften nehmen im st. gallischen Sozialsystem eine ergänzende Rolle zum Staat wahr. Dies zeigte sich am Donnerstagabend an der dritten öffentlichen Veranstaltung der St.Galler Konferenz zu Fragen von Religion und Staat zum Thema «Der Einsatz der Religionsgemeinschaften gegen Armut». Eine gemeinsame und gerade im Einzelfall grosszügigere Haltung von Religionsgemeinschaffen, Kanton und Gemeinden, welche die Pflicht zur Hilfe ins Zentrum stellt, sei notwendig.

Für den Basler Soziologen Ueli Mäder ist Armut ein deutlicher Mangel an sozialer Sicherheit. Betroffen seien alle, die ihre existenziellen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können, erklärte Mäder in seinem Referat an der dritten Ausgabe der St.Galler Konferenz zu Fragen von Religion und Staat am Donnerstag im Regierungsgebäude in St.Gallen. Armut sei aber bei Betroffenen auch ein Gefühl, so zum Beispiel beim Gang auf das Sozialamt oder beim Besuch eines Caritas-Marktes.

Die Corona-Epidemie hat viele Menschen aus dem finanziellen Gleichgewicht gebracht. In ihrer Rede ging Regierungsrätin Laura Bucher insbesondere auf die Wahrnehmung des Staates und der Religionsgemeinschaften bei Armutsbetroffenen ein. Denn oft würden Menschen ihren Anspruch auf Sozialleistungen nicht geltend machen. Dies aus Scham vor einer Stigmatisierung, schlechten Erfahrungen mit staatlichen Stellen oder aus Angst vor einer Ausweisung bei Menschen ohne Schweizer Pass. Für den Armutsforscher Ueli Mäder sind die daraus folgenden Konsequenzen wie gesundheitliche und psychische Probleme schwerwiegend.

Mit Diakonie-Animateuren die Not erkennen
Der Theologe Odilo Noti zeigte in seinem Referat auf, wie eng die Geschichte und Gegenwart der Religionsgemeinschaften mit der sozialen Frage und dem Engagement gegen Armutsprobleme verbunden ist. Die Konferenz zeigte insgesamt klar auf, dass der Titel der Veranstaltung «Der Einsatz der Religionsgemeinschaften gegen die Armut» gerade auch im Kanton St. Gallen eine Alltagsrealität ist.

Wie erkennt man Armut, wenn sie sich im Verborgenen befindet? Im Auftrag des Bistums St.Gallen sind professionelle Diakonie-Animateure in den verschiedenen Regionen des Kantons tätig, um mit ihren «sozialen Antennen» die Not der Menschen aufzuspüren. Daraus entwickelten sich konkrete Projekte vor Ort, wie zum Beispiel der «Schreibservice». Hierhin können sich Menschen mit Mühe im schriftlichen Ausdruck wenden und erhalten z.B. bei einer Bewerbung wichtige Hilfe, um ihrer Not zu entkommen. Solche Schreibservices bestehen heute in St. Gallen, Sargans, Uznach, Buchs, Rapperswil, Bütschwil, Flawil, Rheineck und Ebnat-Kappel.

Soziale Treffpunkte auch auf dem Land
Gerade auf dem Land sei Armut den Betroffenen oft nicht bewusst, so Sylvia Suter, Leiterin des b-treffs in Bütschwil, der von den politischen Gemeinden sowie den Kirchgemeinden in der Region getragen wird. Zusammen mit 30 Freiwilligen betreibt sie seit 2012 einen sozialen Treffpunkt für Menschen in herausfordernden Lebenslagen. Das Angebot reicht von der Lebensmittelabgabe über den Seconhand-Kleiderverkauf bis zur Begleitung von geflüchteten Menschen. Claudius Luterbacher, Kanzler des Bistums St.Gallen, wies darauf hin, wie wichtig, aber auch aufwändig es sei, eine minimale Finanzierung solcher Angebote in Zusammenarbeit mit den Gemeinden zu finden.

Vielfältige Aufgaben und geringe Mittel
Der Wiler Imam und Präsident des Dachverbands Islamischer Gemeinden in der Ostschweiz und des Fürstentums Liechtenstein (DIGO), Bekim Alimi, stellte fest, dass Muslime und ihre Gemeinschaften im allgemeinen stärker von Armut betroffen seien. Bedingt durch sprachliche Schwierigkeiten, tieferem Bildungshintergrund oder geringerer Berufserfahrung, sei für sie die Integration in die Arbeitswelt erschwert. Oft rufe man an Gottesdiensten zu Spenden auf, um muslimische Familien finanziell zu unterstützen und so Härtefälle zu vermeiden. Aufgrund von negativen Erfahrungen in ihren Herkunftsländern begegneten Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft staatlichen Stellen aber eher mit Misstrauen. Die Sozialarbeit von Imamen sei angesichts der heterogenen Zusammensetzung der Gemeinschaft anspruchsvoll und zeitaufwändig. Demgegenüber stehen sehr begrenzte finanzielle und personelle Mittel.

Zusammenarbeit vertiefen und Hilfe ermöglichen
Einig waren sich in der anschliessenden Diskussion Regierungsrätin Laura Bucher, Boris Tschirky, Präsident der Vereinigung der St.Galler Gemeindepräsidentinnen und –präsidenten, und Marc Bilger, Vorstandsmitglied St.Gallische Konferenz der Sozialhilfe, darin, dass die Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften gefördert und vertieft werden soll. Denn sie seien starke Partner in der kantonalen Sozialpolitik. Neben einer den Menschen zugewandten Haltung brauche es vor allem bei kleineren finanziellen Beiträgen eine grosszügigere Haltung gegenüber Armutsbetroffenen. Denn oft sei es eine Weiterbildung oder eine kleinere Anschaffung, die den Schritt aus der Not ermögliche. Dies unterstrich auch Batja Guggenheim, Co-Präsidentin der Jüdischen Gemeinde St.Gallen. Für sie müsse ein grundlegendes Umdenken beim Bezug von Sozialleistungen stattfinden. Der Staat solle aus einer Pflicht zum Helfen heraus agieren und nicht die Betroffenen zu Bittstellern machen.

Die Referate dieser Veranstaltung der St.Galler Konferenz zu Fragen von Religion und Staat werden im Spätherbst dieses Jahres in einer Publikation veröffentlicht.

Die Veranstaltung fand im Rahmen der diesjährigen interreligiösen Dialog- & Aktionswoche (ida) statt. Weiterführende Informationen sind zu finden unter: www.ida-sg.ch

 

Text und Bild: Staatskanzlei St. Gallen – Kirchenbote SG, 9. September 2021

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