Vom Muster zum Original
Wir landen dann schnell in Pauschalisierungen, die verletzend sein können und zur Verunglimpfung von ganzen Gruppen oder Kategorien führen wie beim klassischen: «Typisch Mann! Typisch Frau!» Persönlichkeitstypologien jedoch möchten uns eine Art Landkarte an die Hand geben, wie wir andere und uns selbst verstehen können. Und in der Tat faszinieren mich diese sogar.
Die vier Grundformen der Angst z.B. helfen mir immer wieder, mich in meinen Ängsten einzuordnen und auch andere darin zu verstehen. Das Enneagramm, eine Persönlichkeitstypologie mit sehr differenzierter, dynamischer Landkarte mit spirituellen Aspekten habe ich sogar jahrelang selbst unterrichtet. Eine befreundete Sozialpädagogin ist begeistert vom Myers-Briggs-Test, welcher auf der Typologie des Tiefenpsychologen C.G. Jung basiert. Die erste uns bekannte Typologie führt man im 5. Jh. v.Chr. auf den Griechen Hippokrates zurück (Sanguiniker, Melancholiker, Choleriker, Phlegmatiker). Bis heute haben die letzten drei Bezeichnungen Eingang gefunden in unsere Alltagssprache.
Typologien helfen uns, Muster wieder zu erkennen und vor allen Dingen auch unsere eigenen Perspektiven zu erweitern. Manchmal gehen wir davon aus, dass alle anderen die Welt durch dieselbe Brille betrachten wie wir selbst es tun. Unsere Wahrnehmung weitet sich aus, wenn wir erfahren, dass es unterschiedliche Arten gibt, wie wir die Welt sehen, wie wir ticken, was uns wichtig ist, worauf wir besonderen Wert legen, wo wir verletzlich sind, usw. usf. Es ist ähnlich wie bei Mustern, welche unsere Augen wiedererkennen können.
«Das ist mal wieder typisch!, sagen wir schnell einmal und auch ich ertappe mich dabei.»
Und dennoch können auch Typologien zur Falle werden. Wir beginnen uns und andere festzulegen auf das «Typische», das heisst, wir suchen nur noch nach bekannten Mustern. Das ist nicht nur für andere verletzend, sondern es kann auch uns selbst begrenzen. Im Sinne der sich selbst erfüllenden Prophezeiung verhalten wir uns selbst dem Muster entsprechend.
An diesem Punkt ist mir der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) sehr wichtig geworden. Er hat in seinem Buch «Ich und Du» beschrieben, dass der Mensch wesentlich wird am Du. Wir sind auf Beziehung angelegte Wesen. Er meint damit nicht nur Begegnungen zwischen Mensch und Mensch, sondern er bezieht alles ein in das Ich und Du. Wenn ich meiner Umgebung begegne in lebendigem Austausch, ist es eine Ich-Du Begegnung. In Abgrenzung dazu sieht er das Ich-Es. Wenn ich das, was mich umgibt, gebrauche, inklusive Menschen, dann ist es eine Ich-Es-Begegnung. Beides ist notwendig und auch unumgänglich. Die Tastatur beispielsweise, über die gerade meine Finger gleiten, ordne ich einem Ich-Es zu. Indem ich über sie jetzt schreibe, könnte sie jedoch zum Du werden. Das Dialogische, Lebendige birgt unsere Einzigartigkeit und bezieht alles mit ein, was uns überraschen und Neues offenbaren kann. Neben den wiedererkennbaren Mustern in unserer Persönlichkeitsstruktur und in der Natur stimmt eben auch, dass nicht nur jede Zelle ganz einzigartig ist, sondern auch wir als Individuen. Wir sind alle einzigartiger Ausdruck der kreativen Schöpferkraft der Liebe Gottes, diesem Du, in welchem alles andere Du miteingeschlossen ist. Um mit Buber zu enden: «Ich werde am Du… Alles wirkliche Leben ist Begegnung.»
Annette Spitzenberg
Vom Muster zum Original