Von der Katakombe zur Kremation – neue Orte der Trauer

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20.10.2022
Familiengruft, Gemeinschaftsgrab, Ruhwald oder Urnenwand: Der letzte Weg führt auf den Friedhof. Doch mit der Technisierung, der Säkularisierung, der Individualisierung und dem Aufkommen von Krematorien entstanden neue Orte der Trauer. Sie widerspiegeln jeweils Denk- und Fühlweisen eines Zeitalters. Geblieben ist das Erinnern.

«Friedhöfe sind Orte des Nichtvergessens, des Gedenkens, der Stille, der Einkehr und des Trauerns sowie auch der Trauerbewältigung für Angehörige und Freunde. Gesamtgesellschaftlich gesehen handelt es sich um Orte des ‹memento mori›, als Erinnerung an die eigene Sterblichkeit und damit auch als letzter Ort der Verbundenheit über alle Unterschiede von Status, Geschlecht oder Konfession hinweg», sagt Carl Boetschi von der Arbeitsstelle Gottesdienste und Pastorales der Reformierten Kirche des Kantons St. Gallen.  

Von der Katakombe zur Kremation
Erste Ruhestätten von Verstorbenen entstanden schon früh. Im alten Ägypten waren es Grabhöhlen. Bei den Griechen und Römern wurden die Toten in Nekropolen ausserhalb der Stadt beerdigt. Mit dem Aufkommen des Christentums änderte sich der Begräbniskult: Nicht nur im Leben, auch im Tod wollte die Religionsgemeinschaft vereint auf den Tag der Auferstehung warten. Bis zum 4. Jahrhundert waren es meist unterirdische Grabkammern – Katakomben. Als sich das Christentum durchgesetzt hatte, wurden vielerorts Kirchen gebaut. Umfriedete Grabstätten beim Gotteshaus brachten die Nähe zu Gott zum Ausdruck.

«Gesellschaftlich handelt es sich um Orte des ‹memento mori›, als Erinnerung an die eigene Sterblichkeit.»

Carl Boetschi, Arbeitsstelle Pastorales

Mit dem Wachstum der Bevölkerung fanden Begräbnisstätten nicht nur bei der Kirche, sondern auch ausserhalb Platz. Im Zuge der Aufklärung sowie der Technisierung und Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts war nicht mehr nur das Gotteshaus, sondern auch die Leichenhalle in der Gemeinde und das Krematorium der gesellschaftliche Ort der Trauer. Fragen zur Hygiene  auf den Friedhöfen, aber auch die Forderung nach platzsparenden und günstigeren Bestattungsarten beschleunigten die Einäscherung. 

St. Gallens Krematorium Feldli
Die Feuerbestattung ist vermutlich älter als die Erdbestattung. Forschern gemäss gab es die ersten Kremationen in Europa bereits in der Jungsteinzeit, ca. 3000 Jahre vor Christus. Das erste schweizerische Krematorium wurde 1889 in Zürich Sihlfeld gebaut. In St. Gallen kam es 1890  zur Gründung des St. Galler Feuerbestattungsvereins, der heutigen Stiftung Krematorium St. Gallen. Von 1901 bis 1905 gab es hier 147 Einäscherungen. Derzeit werden im 2017 neuerstellten Krematorium im Friedhof Feldli Einäscherungen für 120 Vertragsgemeinden durchgeführt. Die Zahl der Feuerbestattungen stieg kontinuierlich. Waren es in St. Gallen im Jahr 2000 noch 3152 Einäscherungen von Toten, re-gistrierte das Krematorium im Feldli 2021 insgesamt 4923 Leichenverbrennungen. 

Kirchliche beerdigung ist gefragt
Doch lassen sich die verstorbenen Kirchenmitglieder auch kirchlich bestatten? Antwort gibt die sogenannte Bestattungsquote. Laut dem Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut St. Gallen liegt die Quote bei vielen ländlichen Kantonen bei 100 Prozent. Mit andern Worten: Die allermeisten Verstorbenen, welche katholisch oder reformiert sind, werden auch kirchlich bestattet. Carl Boetschi bestätigt dies: «Laut der Statistik der Bestattungen der Evang. Kirche des Kantons St. Gallen ist die Zahl in den letzten zehn Jahren konstant geblieben. Sie bewegt sich zwischen 1050 und 1180 pro Jahr.» Die kirchliche Beerdigung ist also nach wie vor gefragt.

Damit dies weiter gelinge, so Boetschi, müsse die Kirche ihre Dienste gut kommunizieren, Trauergespräche sorgfältig führen und einfühlsam gestaltete Abdankungsfeiern pflegen. Ebenso wichtig sei das Sensibilisieren für den Umgang mit Sterben und Tod wie die Kurse für Angehörige von «Bill» –  Begleitung in den letzten Lebensjahren. Schliesslich sei auch der Austausch mit den Bestattungsämtern von Bedeutung, damit diese die Hinterbliebenen auf die Dienste der Kirche hinweisen. Dass Gespräche mit den kommunalen Behörden wichtig sind, zeigt das Beispiel der Stadt Gossau, wo es gilt, wegen zunehmender Urnenbeisetzungen auf dem Friedhof Hofegg ein neues Gemeinschaftsgrab zu planen. 

«Wir kennen die Beerdigungswünsche der Angehörigen kaum, deshalb fragten wir die Pfarrpersonen nach
ihren Projektideen.»

Thomas Kämpfer, Projektleiter Stadt Gossau

Wohl ist das Friedhofswesen Sache der politischen Gemeinde. «Und wir wissen zwar, was der Unterhaltsdienst leistet und wie er auf dem Friedhof arbeitet, kennen aber die Beerdigungsbedürfnisse der Angehörigen weniger, so dass wir vom Friedhofsgärtner und auch von den Pfarrpersonen Ideen fürs Projekt erhalten wollten», erklärt Thomas Kämpfer vom Tiefbauamt Gossau. In der Folge skizzierte das reformierte Pfarrteam mit Tina und Christian Bernhard sowie Friederike Herbrechtsmeier seine Vorschläge. «Wir versuchten mit unseren Ideen die bauliche Infrastruktur so zu definieren, dass sie sowohl dem Bedürfnis nach einem Grab mit oder ohne Namen, aber auch den kirchlichen Abschiedsritualen entspricht. Die Materialisierung der Wege und Wände wurde thematisiert, ebenso ein Kunstwerk. Der Friedhof soll liturgisch wie theologisch stimmig, aber auch praktisch sein», so Herbrechtsmeier. «Wir stellen eine zunehmende Individualisierung bei den Bestattungen beziehungsweise ihrer Gestaltung fest. Diesen Erwartungen der Hinterbliebenen an eine Beerdigung wollen wir gerecht werden.» Die Pfarrerin wünscht sich persönlich kleinere Bereiche auf dem Friedhof, mit Büschen und Bäumen, ohne dass der parkähnliche Charakter verloren geht. 

 Alternative Bestattungsorte
Nicht nur in Gossau werden die Familiengräber und die klassische Bestattung mit Grabstein seltener. Immer mehr Menschen finden die letzte Ruhe im Gemeinschaftsgrab oder unter einem Baum in den 70 Schweizer Friedwäldern, wie im Ruhwald Gretschins, auf der Alp Selamatt im Toggenburg oder im Kobelwald Uzwil. Andere wollen ihre Asche dem Wind oder Meer übergeben. Diese Umstände lassen auf den Friedhöfen mehr freien Platz und Grünfläche offen, so dass sich der Gottesacker zur grosszügigen Parkanlage wandelt. Insbesondere in den Städten, in denen die Bevölkerung unter Verdichtung stöhnt, werden Friedhöfe zu grünen Lungen, Rückzugsorten und zum Eventpark. Im Stadtfriedhof Baden ist Yoga angesagt. In Zürich beklagen sich Anwohner, dass auf dem Friedhof Sihlfeld gejoggt, gesonnt und grilliert werde. Angehörige regen sich auf, dass Partys steigen. Friedhöfe waren aber nie nur Orte für Verstorbene; früh wurden sie zu Ausflugszielen. Nur hatte diese Art des Reisens einen andern Namen: Wallfahrten. Für die Ärmeren waren sie die einzige Möglichkeit, zu reisen. Heute bewirbt die Tourismusbranche Gräber von Prominenten. Evergreen der Ruhestätten ist jene von Hermann Hesse im Tessin. 

Grenze der Pietät
Die theologische Fakultät in Rostock beobachtet die Entwicklung auf dem Gottesacker schon lange. Sie sieht in den Friedhöfen einen Seismografen für den kulturellen Umgang mit dem Tod. Friedhöfe seien Trauerstätten, Biotope, Naherholungsgebiete sowie Orte des kulturellen Gedächtnisses. In einer Studie empfiehlt sie, die Attraktivität der Friedhöfe zu erhöhen, die Flächen für die Erholung parkähnlich anzulegen und sie für Konzerte, Führungen, Andachten und Ausstellungen zu öffnen. «Wenn Friedhöfe eine Zukunft haben wollen, dann müssen diese Schritte angegangen werden», sagt Jakob Kühn, der an der Studie mitarbeitete. «Neben dem gesellschaftlichen und finanziellen Aspekt geht es auch um die Frage, wie man den Umgang mit dem Tod ins Leben zurückholt.» Und wo liegt die Grenze der Pietät? Darf gejoggt werden? Kühn: «Die öffentliche Mitnutzung sollte die Trauer am Ort nicht stören. Diese muss möglich bleiben.» 

 

Text und Fotos: Katharina Meier – Kirchenbote SG, Ende Oktober 2022

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