Von der Wiege bis zur Bahre
«I ghööre-n-es Glööggli das lüütet so nätt, dä Tag isch vergange, jetz goni is Bett. Im Bett tueni bätte und schlaaffe denn ii, de liäb Gott im Himmel wird wohl bi mir sii.» Das ist eines der Lieder, welches mich mit meinem Lieblingsritual aus meiner eigenen Kindheit verbindet. Abends nach dem Abendessen sangen wir gemeinsam ein «Gute-Nacht-Lied». Wir Kinder durften abwechslungsweise wählen. Daneben gab es noch «Weisst du wieviel Sternlein stehen», «Guten Abend, gut Nacht», «Schlafe mein Prinzchen», «Der Mond ist aufgegangen», «Abendstille überall», «Über abendstille Auen». Letztere beide liebte ich besonders, denn wir sangen sie im Kanon. Ich spürte genau, welche Lieder meine Eltern mehr oder weniger mochten, und es gab eines, dessen Text mich trotz Brahms' schöner Melodie heimlich ein wenig ängstigte: «Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt». Ich dachte: «Hoffentlich will er es dann wirklich, dass ich geweckt werde.» Diese kindliche Erinnerung an einen scheinbar willkürlichen Gott hat dazu geführt, dass ich heute, wenn ich dieses Lied singe, das «wenn» durch ein «da» ersetze.
Alltagsrituale
Unser Alltag wird strukturiert durch wiederkehrende Rituale. Das sind zum Beispiel: zwei bis fünf tägliche Mahlzeiten, Duschen am Morgen, Zähneputzen nach jeder Mahlzeit, Zeitung lesen zum Frühstück, schminken, kämmen, abends die Haustüre verschliessen, Händewaschen vor den Mahlzeiten, einen Mittagsschlaf halten. Welche Rituale es auch sind, wir brauchen über sie nicht nachzudenken. Sie strukturieren unseren Alltag und geben uns Sicherheit.
Je nach Prägung brauchen wir diese Sicherheit mehr oder weniger. Ich kann ohne tägliche Dusche leben, wenn ich in Ferien an Orten unterwegs bin, in denen dies nicht möglich ist. Ein Reiseleiter, welcher eine Gruppe durch die mongolische Steppe begleitete, erzählte von einer Teilnehmerin, die nicht auf diese verzichten wollte und eine mobile Dusche mitnahm. Es erwies sich als Strapaze für die anderen Teilnehmenden, die Dusche aufzustellen, den Sichtschutz zu gewährleisten und das Wasser für diese einzufüllen. Angesichts dessen konnte sie ihr Ritual schlussendlich für die Zeit der Reise loslassen.
Rituale, die unsere Woche strukturieren, teilen unsere Zeit in Tätigkeit und Ruhe, Arbeit und Freizeit. Dass Rituale unsere innere Ordnung durcheinanderbringen können, anstatt uns in Einklang zu bringen, zeigte das Experiment während der französischen Revolution. Diese versuchte im Rahmen der Entchristianisierung, anstelle des Siebentagerhythmus einen Zehntagerhythmus einzuführen (1793). Das ging schief. Nicht nur gab es entsprechend weniger Freitage, sondern es erwies sich als nicht tauglich. Die Menschen widersetzten sich und nach wenigen Jahren wurde der Revolutionskalender wieder abgeschafft. Die Zahl Sieben entspricht tatsächlich der Ordnung der Schöpfung (Mondzyklus), weltweit ist die Woche sieben Tage lang. Auch in anderen nichtmonotheistischen Religionen hat die Zahl Sieben eine besondere und ordnende Bedeutung, so zum Beispiel die Chakren in der hinduistischen Tradition.
Rituale bei Übergängen
Unser Leben ist bestimmt von kleinen und grossen Übergängen. Geburt, Schuleintritt, Schulaustritt, Volljährigkeit, Lehre oder Studium, Berufsleben, Liebesverbindungen, Liebeskummer, Heirat vielleicht, eigene Kinder, Umzüge, vielleicht Scheidung, Sterben von nahestehenden Menschen, Austritt aus dem Berufsleben, vielleicht Grosseltern werden, erkranken, gesund werden und irgendwann dann der eigene Tod.
Rituale unterstützen uns, Übergänge bewusst zu gestalten. Und wenn es welche gibt, für die kein Ritual angeboten wird, können wir selbst kreativ werden, eines zu entwickeln. Immer wieder habe ich dies für mich selbst als sehr hilfreich erlebt. Bis heute zehre ich von der Kraft des Rituals, welches ich zusammen mit einer Nachbarin damals für unsere beiden kurze Zeit zurückliegenden Scheidungen gestaltete.
Rituale in der Religion
Seit jeher sind religiöse Rituale untrennbar mit unserem Menschsein verknüpft. Aus Funden der vorschriftlichen Zeit lässt sich herauslesen, dass Menschen bereits im Paläolithikum, der Altsteinzeit, Rituale kannten. Sie verbinden uns mit dem, was sich jenseits von unserer Raum-Zeit-gebundenen Wahrnehmung befindet.
Rituale in der Religion begleiten uns dabei auf verschiedenen Ebenen. Da gibt es die individuellen Rituale wie zum Beispiel das Gebet im stillen Kämmerlein.
Viele jedoch finden in der Gemeinschaft statt: Die wochenstrukturierenden Rituale wie der Sonntagsgottesdienst, die jahresstrukturierenden Rituale unseres Festkreises von Advent mit Weihnachten bis zum Ewigkeitssonntag, dem letzten Sonntag des Kirchenjahres.
Dazu kommen diejenigen, die uns während unseres Lebens begleiten: Die Taufe nach der Geburt, die Konfirmation als Übergangsritus an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die Hochzeit bei einer Liebesverbindung und schliesslich die Bestattung am Ende des Lebens.
Rituale machen sichtbar, zu welcher Konfession oder Religion wir gehören.
Welche Kraft sie haben, zeigt für mich die Geschichte der sogenannten «Marranen», Juden aus Spanien und Portugal, welche im Jahr 1492 entweder die Möglichkeit hatten, zu fliehen unter Zurücklassung all ihres Hab und Guts, oder aber sich taufen zu lassen, da allein der christliche Glaube geduldet wurde. Dass das nicht immer freiwillig geschah, lässt sich denken. Manche aus Converso-Familien Stammende wurden zwar zu überzeugten Christen wie Teresa von Avila oder Luis de Léon, andere hingegen blieben heimlich ihrem Glauben treu. Um nicht von der Inquisition entdeckt zu werden, geschah dies hinter verschlossenen Türen. Im Keller wurden am Freitagabend die beiden Schabbatkerzen angezündet, es gab Rezepte für Würste ohne Schweinefleisch. Diese und andere heimlichen Rituale wurden in den Familien über Generationen weitergegeben, immer unter strikter Verschwiegenheit. Manche Familien wussten nach einigen Hundert Jahren nicht mehr, warum sie dies taten. Im letzten Jahrhundert wurde klar, dass es sich um Converso-Familien handelte. Manche von ihnen, die sich ihrer Wurzeln bewusstwurden, konvertierten dann tatsächlich zum Judentum. Andere jedoch waren so sehr in ihren heimlichen Ritualen zuhause, dass sie bei ihnen blieben und diesen treu bleiben wollten. Wieder andere verstanden sich trotz ihrer heimlichen Rituale als Christen.
Von der Wiege bis zur Bahre