Von Menschen und Mustern

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17.10.2022
Kürzlich hatten wir ein Klassentreffen. Mehr als 40 Jahre sind seit unserer Schulzeit vergangen. Ein Klassenfoto in Grossformat hängt an der Wand im Restaurant. Längst nicht alle sind gekommen, doch das Bild weckt viele Erinnerungen.

Und dann sitzen wir am Tisch. Unsere Erstklasslehrerin mit weissen Haaren, jedoch so temperamentvoll wie früher. Und zwanzig Frauen und Männer weit über der Lebensmitte, alle mit einer eigenen Geschichte und einer grossen Portion Lebenserfahrung. Trotzdem läuft vieles fast nach dem gleichen Muster ab wie vor Jahrzehnten. Aus Buben sind ältere Männer geworden, doch ihre Gespräche sind ganz ähnlich wie früher und es finden sich rasch die gleichen zusammen wie zur Schulzeit. Fast alle Mädchen von damals sind noch berufstätig, haben jedoch mehrheitlich Grosskinder und sind in verschiedenen Aufgaben eingespannt. Dass wir sichtbar älter geworden sind, merke ich plötzlich kaum mehr. Irgendwie haben alle ihren Charakter und ihre Eigenheiten behalten. Das scheue Mädchen von damals hat zwar an Selbstbewusstsein gewonnen, ist aber immer noch sehr zurückhaltend. Die Frau mit dem trockenen Humor konnte schon als Kind herrlich über sich selber lachen. Der ruhige, sympathische, ausgeglichene Bub aus der Klasse unter mir hat seine angenehme, freundliche Art behalten. Die kleine, immer fröhliche Plaudertasche hat nichts von ihrer Lebhaftigkeit eingebüsst. Die Lauten wurden kaum leiser, die Kritischen noch kritischer. Die Optimisten glänzen mit Galgenhumor.

Der Mustermix der Kinder von damals hat nur etwas an Farbigkeit verloren, ist sonst aber fast unverändert, so scheint es mir. Doch vielleicht bin ich einfach voreingenommen und nicht fähig, alte Bilder zu korrigieren? Und ich frage mich: Bin auch ich in den Augen meiner ehemaligen Klassenkameraden über Jahrzehnte gleichgeblieben?

Rollen: selbstgewählt oder aufgesetzt?

Als mir vor einigen Jahren ein Schulkamerad erklärte, ich sei immer so eine angepasste, brave Streberin gewesen, fühlte ich mich verletzt. Sah er denn das rebellische, kritische Mädchen in mir nicht, als das ich mich empfand? Stecke auch ich fest in meiner Rolle, seinem Bild von mir? In Gedanken suche ich nach festgefahrenen Mustern in meinen Handlungen, unserer Familie, meinem Beruf, und sehe plötzlich viele. Deutlich wurde das, als wir vor einiger Zeit ein Wochenende mit unseren vier längst erwachsenen Kindern ohne ihre Familien verbrachten. Kaum waren wir zusammen unterwegs, schlüpfte jedes in seine angestammte Rolle. Der grosse Bruder, den seine Schwestern stets gerne kritisierten. Das älteste der Mädchen, das wie immer die Fäden in die Hand nahm, damit alles klappte. Das mittlere, das mit seinem Lachen und der Unbeschwertheit schon immer manch kritische Situation entschärfte. Und die Jüngste, die so oft von den Geschwistern gehänselt wurde und immer noch irgendwie unsere Kleine ist, obwohl sie alle anderen an Körpergrösse überragt. Für kurze Zeit waren alle Vier nicht mehr Berufsleute, Ehepartner, Elternteile, sondern nur noch unsere Kinder in ihrem ursprünglichen Verhaltensmuster.

Muster-gültig?

Auch in meinen Alltag gibt es Muster – vielleicht auch Macken – die ich nicht ablegen kann. Ich mag Ordnung, liebe Symmetrien, harmonische Formen, freie Flächen. Die Bilderbücher der Grosskinder stehen nach Grösse sortiert im Gestell. Die Schülertische richte ich bei der Reinigung in geraden Reihen aus. Nachtvorhänge müssen ganz offen oder ganz geschlossen sein.

Doch manches entzieht sich hartnäckig meinem Bedürfnis nach Mustergültigkeit: Ich kann Texte für den Magnet trotz guter Vorsätze immer erst schreiben, wenn der Druck riesig, die Wäsche gebügelt und der Abgabeschluss beinahe überschritten ist. Und ich bin nicht fähig, mein Auto rückwärts, gerade und genau in die Mitte eines Parkfeldes zu manövrieren.

Judith Husistein

 

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