Vor ihnen die Sintflut

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23.02.2022
In Westafrika verschwinden mit dem steigenden Meeresspiegel ganze Küstenstreifen. Der Klimawandel trifft hier mit besonderer Heftigkeit auf die Ärmsten. Sie tragen vergleichsweise wenig zum Klimawandel bei – und haben dennoch stark an seinen Folgen zu tragen.

Das Meer holt sich in Senegals Siné-Saloum-Delta, was es will. Die Strände, die Häuser, die Bäume, vieles hat es schon verschluckt – und es rückt immer näher. In Senegal haben sich die Temperaturen seit den 1960er-Jahren um ein Grad Celsius erhöht – und sie werden sich bis Ende des Jahrhunderts um weitere ein bis zwei Grad erhöhen. Der Meeresspiegel wird dadurch gemäss Klimaforscherinnen um mindestens einen Meter ansteigen, was zu immer mehr Küstenerosion führen wird. 

Diese Erosion betrifft die ganze Küste Westafrikas, die sich über 6000 Kilometer von Mauretanien bis Kamerun erstreckt, und sie ist verheerend: Infrastruktur und wirtschaftliche Aktivitäten sind in den dicht besiedelten Küstengebieten zentriert. Über ein Drittel der Bevölkerung der Länder lebt hier und rund 50 Prozent der Wirtschaftsleistung werden hier erbracht. Der Meeresspiegelanstieg bedroht daher die Existenz unzähliger Menschen, die quasi auf einer tickenden Zeitbombe sitzen.

 

Mangroven speichern fünfmal mehr Kohlenstoff als terrestrische Wälder.

 

Der Klimawandel führt nicht nur zu einem Anstieg des Meeresspiegels, durch die CO2-Aufnahme versauert auch das Meerwasser, Extremwetterereignisse wie Starkregenfälle und Stürme werden häufiger, die Regenzeit wird kürzer, Grundwasser und Böden versalzen.

Kein anderer Kontinent ist so stark von der Erderwärmung betroffen wie Afrika, wo die Menschen einen grossen Anteil der Folgen des Klimawandels tragen. Menschen wie Awa Sarr. Die 57-Jährige ist Mutter von fünf Kindern und lebt in der Gemeinde Djirnda im Siné-Saloum-Delta. Sie bestreitet ihren Lebensunterhalt mit der Zucht und dem Verkauf von Austern, Garnelen und anderen Meeresfrüchten.

Aus dem Gleichgewicht

Das Siné-Saloum-Delta – ein Unesco-Weltnaturerbe – ist ein Hotspot der Biodiversität. Das rund 180 000 Hektar grosse Gebiet ist Heimat von 400 Arten und umfasst riesige Mangrovenwälder, Feuchtgebiete, Seen, Lagunen und Sümpfe sowie Sandküsten und Dünen, Savannengebiete und Wälder. Mit den steigenden Temperaturen droht dieses Ökosystem aus dem Gleichgewicht zu geraten, was die Lebensgrundlage Tausender Menschen im Delta bedroht. Insbesondere intakte Mangrovenwälder wären zentral, um die klimatischen Veränderungen im Delta abzufedern. Denn Mangroven sind wahre Champions des Klimaschutzes: Einerseits bewahren sie die Küstenbewohner vor immer stärker werdenden Sturmfluten, der Versalzung der Böden und der Küstenerosion. Andererseits speichern Mangroven fünfmal mehr Kohlenstoff als terrestrische Wälder. Doch Stück für Stück wurden die Mangrovenwälder in der Vergangenheit abgeholzt, um sie als Feuerholz zu nutzen.

Mangroven zurĂĽckbringen

HEKS und die lokale Partnerorganisation «Association pour la Promotion des Initiatives Locales» (APIL) unterstützen 18 Dörfer im Delta dabei, ihre Mangrovenwälder wieder aufzuforsten und den Erhalt durch nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden langfristig zu sichern. «Früher trennten wir beim Austernsammeln die Wurzeln der Mangrovenbäume mit Messern, sodass diese abstarben», erinnert sich Awa Sarr, seit einigen Jahren Mitglied der Frauengruppe «Bol-Boly», die für die Wiederaufforstung der Mangroven zuständig ist. «Ich habe in den Trainings viel gelernt über die Techniken zur Aufforstung von Mangroven.»

Unter der Moderation von APIL und HEKS handelt jedes Dorf einen Schutz- und Wiederherstellungsplan mit klaren Regeln für die Nutzung der natürlichen Ressourcen aus. Ein gewähltes Dorfkomitee ist für die Umsetzung und Einhaltung der Pläne verantwortlich. «Die Wiederherstellung und der Erhalt der Umwelt liegt mir am Herzen. Daher beteilige ich mich aktiv an der Aufforstungskampagne unserer Mangrovenwälder. Wir züchten die Setzlinge, wählen die geeigneten Standorte, pflanzen sie und Überwachen das Wachstum der jungen Bäume», erklärt Sarr.

Natur als grösstes Kapital

Um die Mangroven vor weiterer Abholzung zu schützen, pflanzt jedes Dorf zudem auf einer kleinen Fläche schnell wachsende Bäume an, deren Holz von den Haushalten als Brennholz genutzt werden darf. Um den Holzverbrauch generell zu senken, fördert das Projekt auch die Verbreitung von lokal produzierten, energieeffizienten Öfen.

Heute kann Awa Sarr von der Zucht und dem Verkauf der Meeresfrüchte leben und alle ihre Kinder zur Schule schicken. Sie hat mit eigenen Augen gesehen, wie sich die Fisch- und Meeresfrüchtebestände in der Region erholt haben, seit die Ressourcen geschont und nachhaltig genutzt werden. «Ich bin bereit, bei allem mitzumachen, was die Umwelt und unsere Würde bewahrt. Dafür bin ich auch bereit, Opfer zu bringen», sagt sie. Die Natur ist das grösste Kapital der Menschen im Sine-Saloum-Delta, und Awa Sarr will sie schützen – auch für die Zukunft ihrer Kinder.

Text: Judith Macci, Corina Bosshard, HEKS | Foto: Christian Bobst – Kirchenbote SG, März 2022

 

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