Vorbei ist nicht vorbei
Fragt man Jüdinnen und Juden in Deutschland und in der Schweiz nach dem 7. Oktober, antworten sie ausführlich und emotional. Tom, Kinderarzt in Bayern, erfuhr vom Überfall der Hamas über soziale Medien: «Es war irreal. Trotz aller Versuche, mich von Bildern und Videos abzuschirmen, litt ich lange unter Schlafstörungen.»
Myriam, eine Unternehmerin aus Berlin, erhielt die Nachricht per SMS: «Ich wollte, dass mein Kind einen schönen Geburtstag hat und schob alles beiseite. Den Abend und die Nacht verbrachte ich damit, nach Informationen über meine Freunde in Israel zu suchen.» Der Politikwissenschaftler David, der in Zürich lebt, war damals den ganzen Tag mit den Nachrichten beschäftigt, die ihm den Schlaf raubten. Er war fassungslos über die Brutalität des Massakers. Und die 71-jährige Anna telefonierte den ganzen Tag mit Freunden, auch in Israel, und las viele Berichte.
Gräben tun sich auf im Freundeskreis
Während einer kurzen Zeit erlebten die Befragten von offizieller Stelle Mitgefühl und Solidarität. Doch sie berichten, dass nur wenige Freunde nach ihrem Befinden fragten.
Seit dem Krieg in Gaza hat sich die Beziehung vieler Jüdinnen und Juden zur Gesellschaft verändert. In Toms Umfeld, darunter eine Ärzteorganisation und Menschenrechtsgruppen, mit denen er verbunden ist, war nur die Solidarität mit Gaza Thema, der Hamas-Terror nicht. Anna erlebte, dass gerade Freundinnen aus dem linken akademischen Umfeld, aus Frauenorganisationen und Kirchen, wenig Faktenwissen hatten und auf Abstand gingen.
In Myriams Freundeskreis öffnete sich ein Graben zwischen den Israelis und Juden, «denen, die wissen, wie’s tut», und den anderen. Letztere schwiegen oder beschuldigten Israel wegen seines Einsatzes in Gaza und nannten Myriam radikal, da sie für Israel eintrat. Als die 43-Jährige jüdischen Mitarbeitenden im internen Chat des Unternehmens eine Kontaktmöglichkeit anbieten wollte, untersagte dies die Leitung mit der Begründung, man könne sie nicht vor möglichen Attacken schützen und müsse politisch neutral bleiben. Und falls dadurch bekannt würde, dass es jüdische Personen im Führungsteam gebe, könnten Kunden abspringen.
Der Judenhass nimmt zu
Der Judenhass, oft in propalästinensischem Gewand, nahm nach dem Massaker im Westen zu. Es kam zu einer Welle von Vorfällen, auch gewalttätigen, wie der Schweizer Antisemitismusbericht 2023 zeigt. Täter sind Rechtsextreme, Linksextreme, Islamisten und die sogenannte Mitte der Gesellschaft.
Bei Myriam war dreimal die Polizei wegen roter Hamas-Dreiecke an der Haustür. Sie lebt in einem Mehrfamilienhaus mit Israelis, Verwandten einer Geisel, die sich fürchteten. David fühlte sich immer gut integriert, bemerkt aber seit etwa zehn Jahren wachsenden Antisemitismus. Er erinnert an die Demonstrationen 2014 gegen Israel und die Ermordung eines Rabbiners in Zürich. Dazu kamen immer mehr Hassbotschaften in den sozialen Medien. Als Politiker erlebt er, dass man sich in linken Parteien gegen Rassismus engagiert, nicht aber für Juden. Am 9. Oktober verteilte er in Zürich mit einer Gruppe Zettel, um auf das Massaker hinzuweisen. Sie wurden beschimpft, eine ältere Frau in der Gruppe wurde angespuckt.
«Deine Leute»
Tom zählt Attacken in den sozialen Medien auf: Ein «Facebook-Freund» löschte erst auf mehrmaliges Drängen eine widerwärtige palästinensische Karikatur; man sei noch befreundet. Ein Journalist schrieb in einem Konzertbericht: «Gaza zeigt auch schonungslos auf, dass erlebter Holocaust keine Gewähr dafür ist, ihn nicht auch selbst zu verüben.» Als Tom ihm Antisemitismus vorhielt, beschimpfte er ihn; die Freundschaft ist beendet. Ein dritter schrieb zu Gaza, dass man den verdammten Juden endlich das Handwerk legen müsse. In gewissen Kirchenkreisen werde sie jetzt plötzlich als Jüdin definiert, berichtet Anna. Da heisse es dann «deine Leute», wenn es um Israel gehe. An manchen Orten trägt Myriam den Davidsstern nicht mehr offen.
Bleiben oder gehen?
Alle Befragten bringen sich politisch trotz Gegenwind weiterhin ein. Myriam «weigert sich standhaft, sich zu fürchten.» Viele Juden in Europa fragen sich aber: Sollen sie bleiben oder gehen? Und: Wohin sollen sie gehen? Israel war lange die Lebensversicherung für jüdische Menschen in der Diaspora. Für alle Befragten ist diese Einstellung seit dem 7. Oktober stärker geworden, gleichzeitig ist die Sicherheit erschüttert.
Vorbei ist nicht vorbei