Vorsicht, hier wird nicht gepredigt!

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23.04.2019
Hat sie ausgedient? Das Pfarrteam der Kirchgemeinde Straubenzell hinterfragt die Sonntagspredigt und verzichtet im Mai auf sie.

Im Mai ergiesst sich am Sonntagmorgen kein Redeschwall über die Kirchgänger der Gemeinde Straubenzell. Das Pfarrteam verzichtet auf die Predigt und stösst mit dieser Aktion den Dolch ins Zentrum des reformierten Herzens. Warum? Entleeren sich die Kirchenbänke je länger je mehr?

«Nein, nicht unbedingt», sagt Pfarrerin Kathrin Bolt. Wohl sei in Straubenzell der Gottesdienst unterschiedlich besucht. Doch predigte das Pfarrteam immer noch vor einer Kulisse mit 50 bis 70 Personen; sicher, manchmal lauschten auch nur 20 Leute dem Sermon. Die Predigten seien auch nicht langweilig oder zu wenig packend, doch gewännen sie kaum neue Interessierte hinzu.

 Der Artikel mit Tiefenwirkung
Vielmehr hat der Artikel «Herr Pfarrer, lassen Sie Ihre Predigt stecken!» im Magazin «bref» das Straubenzeller Pfarrteam aufgeschreckt und nachdenklich gestimmt. Denn die Autorin Hanna Jacobs ruft das Ende der Predigt aus, hinterfragt ihre Funktion und sagt: «Es ist Zeit, die Predigt von der Kanzel zu stossen.» Als die Menschen nicht informiert waren, weder schreiben noch lesen konnten, sei die Rede des Pfarrers etwas Neues und Hilfreiches gewesen. Er habe biblische Geschichten erzählt, Existenzielles, Bedeutungsvolles und Sinnstiftendes vermittelt. Der Gottesdienst, die Predigt, war das Zentrum der Gemeinschaft schlechthin. Das, so Jacobs, sei passé.

«Aus reformierter Sicht ist die Predigt am Sonntagmorgen Herz und Hauptteil eines Gottesdienstes.»

Die Reformation katapultierte die Predigt schliesslich auf den Olymp der reformierten Kirche. Heute, 500 Jahre später, feilen die Pfarrer immer noch mit gleicher Inbrunst an ihren Reden, vertiefen sich und lieben es, zu predigen: Die einen tun es packend und spannend, die andern fromme Phrasen dreschend und so, als würde einem eine Schlaftablette verabreicht. Doch bei aller Rede, es bleibt beim Monolog, auf den niemand reagieren kann. «Beim Lesen des Artikels», so Kathrin Bolt, «habe ich mich stellenweise wieder-
erkannt und dabei ertappt, dass die Autorin wunde Punkte trifft.» Auch sie predige fürs Leben gern, erklärt die Straubenzellerin. Doch fürchte sie, dass es in der Tat die Pfarrpersonen seien, die oft am meisten von dem Monolog hätten, die spirituellen Interessen der Zuhörenden vielleicht auf der Strecke blieben. Ist die Sonntagspredigt nicht mehr zeitgemäss, Einbahnstrasse oder gar Sackgasse?

Probieren, nachfragen, auswerten

Ganz reformiert, will das Straubenzeller Pfarrteam mit dem Verzicht sein Tun durchleuchten. «Es ist uns ein Anliegen, dass wir nicht in aller Selbstverständlichkeit weiterpredigen, sondern uns hinterfragen. Wir wollen eruieren, ob die klassische Rede von der Kanzel noch gewünscht sei. Deshalb wagen wir diesen Versuch.» Und wie reagieren die Betroffenen auf die Ankündigung? Straubenzells Evangelische lassen sich mittlerweile nicht mehr so schnell von «verrückten Sachen» aus der Bahn werfen, sind sich schon verschiedene Experimente gewohnt. Etwas Überzeugungsarbeit kostete es aber auch die St. Galler  Agglomerationsgemeinde. Schliesslich handelt es sich bei der Sonntagmorgenpredigt um das Herz und den Hauptteil des reformierten Gottesdienstes. 

Er findet im Mai also ohne Monolog, aber trotzdem mit einer 15-minütigen Verkündigung statt, wenn auch jedes Mal in anderer Form. Kathrin Bolt: «Uns ist am Ende vor allem die Reaktion der Gemeinde wichtig. Ihre Ansprüche wollen wir ernstnehmen und analysieren.» Dem Pfarrteam ist die Radikalität des Versuchs bewusst. Ohne ihn aber ist nicht zu erfahren, welcher Weg in die Zukunft gangbar ist oder ob die Predigt tatsächlich von der Kanzel gestossen werden soll.

 

Text: Katharina Meier | Foto: Sabrina Koller  – Kirchenbote SG, Mai 2019

 

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