Wandern ist Mikropilgern

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13.08.2020
In diesen Zeiten des Coronavirus zieht es die Schweizerinnen und Schweizer in die heimischen Berge, wo sie das Wandern entdecken.Für den Wanderkolumnisten Thomas Widmer ist Wandern Pilgern ohne Pathos, dafür ist es in den Alltag eingebaut.

Wir wanderten im St. Gallischen, gerieten per Zufall auf den Jakobsweg, kamen zu einer Wirtschaft. Wir kehrten ein, die Wirtin setzte sich bald zu uns. Sie erzählte uns dies: Einmal rief sie aus Mitleid bei starkem Regen einem älteren Mann zu, der gerade vorbeiging, er solle hereinkommen und eine Pause machen. Der Mann weinte. Er wollte sich auf dem langen Weg von Hamburg nach Santiago de Compostela noch einmal sein Berufsleben durch den Kopf gehen lassen. Die schlimmen Dinge, die er gesehen hatte. Auch seine eigene Rolle wolle er in Ruhe betrachten. Ob er wirklich Gutes bewirkt habe, das frage er sich. Gerade eben, so allein im Regen, habe er daran gezweifelt und sei sich sinnlos vorgekommen. Der Mann war bis zur Pensionierung Richter gewesen.

Bergspitze statt Kapelle
Sind wir Wanderer Pilger? Fürs erste würde ich verneinen. Jedenfalls ist unsereins draussen im Gelände nicht so existenziell getrieben wie jener deutsche Richter. Auch sind wir Wanderer eher am Tagesglück interessiert. Am Panorama. Am Gipfel. Der Weg ist unser Ziel – aber nur in Kombination mit einem schönen Ort. Wir Wanderer visieren daher den Etzel an, während die Jakobspilger, die von Pfäffikon aufsteigen und nach Einsiedeln wollen, die Bergspitze in der Regel ignorieren und stattdessen die Kapelle St. Meinrad ansteuern.

Japsen im eiskalten Wasser
Und doch! Kürzlich erblickten wir am Ende einer Napf-Tour im Luzerner Wallfahrtsort Luthern Bad eine alte Kapelle. Daneben gab es ein modernes Fussbad, einen Raum aus edlem Stein. Am Geländer stiegen wir ins Becken hinab, japsten und jauchzten, so kalt war das Wasser. Als wir hernach im Gras lagen, war da etwas. Ein Mehr gegenüber der reinen Körperfreude. Eine berauschte Zufriedenheit. Ein Seelensummen.

Die spirituelle Einkehr passiert uns Wanderern eher zufällig. Wir suchen sie nicht, sind aber offen. Wir kommen zum Beispiel oberhalb von Heitenried im Kanton Freiburg zu einer in den Sandstein gehauenen Felsenkapelle. Sie berührt uns ebenso wie die Votivtafeln im Kloster Mariastein im Solothurnischen. Übrigens: Ich bin in Stein im Appenzellerland reformiert aufgewachsen und konfirmiert worden. Die zeichenarmen Einrichtungen von uns Reformierten ergreifen mich fast noch mehr. Schlichtheit ist auch ein Wert. Und daher rührt mich die reformierte Kirche von St. Antönien im Prättigau immer wieder an. Ihre Leere ist ein Resonanzraum der Stimmungen.

Göttlich blaue Blume
Letztlich gibt es ohnehin eine Wallfahrt, die der religiösen Einrichtungen nicht bedarf. Ist es nicht auch eine kleine Pilgerei, zusammen zu gehen und Freundschaft zu verspüren? Ist es nicht eine kleine Pilgerei, im Wald einen Felsen zu berühren und zu wissen, dass er noch ewig da sein wird, wenn es mich längst nicht mehr gibt? Ist es nicht eine kleine Pilgerei, sich zu bücken und das Auge auf einer Pflanze ruhen zu lassen. Etwa auf dem Enzian kürzlich vor der Meglisalp im Alpstein. Die Bläue der Blume kam mir fantastisch vor. Unwirklich. Göttlich.

Wir Wanderer sind keine grossen Pilger. Unser Weg ist begrenzt. Unser Leiden ebenfalls, schwer tragen wir nicht. Am Abend nehmen wir den Zug nach Hause. Es ist ein pathosloses Pilgern, dem wir frönen, es vollzieht sich nebenbei. Dafür ist es in unseren Alltag eingebaut. Wir Wanderer, wir sind Mikropilger.

Thomas Widmer, kirchenbote-online

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