Den Angegriffenen im Stich lassen oder Waffen liefern, mit denen Menschen getötet werden? Dieses Dilemma wird seit dem russischen Überfall auf die Ukraine in Kirchen diskutiert. So forderte Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschland, sowohl Waffenlieferungen an die Ukraine als auch Verhandlungen mit Russland: «Kämpfen und reden, es braucht beides.» Derweil unterzeichneten die bekannten Theologen Eugen Drewermann und Margot Kässmann das «Manifest für Frieden» von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Dieses Manifest wiederum stiess auf scharfe Kritik. «Die unfassbaren Kriegsverbrechen und die brutalste Umsetzung lang angekündigter imperialer Fantasien vor aller Augen verbieten es mir als Christin, meine Sehnsucht nach Frieden rücksichtslos vor das Leid der Menschen in der Ukraine zu stellen», reagierte etwa die hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr auf Twitter.
Ständerat gegen Exportlockerung
Die Frage stellt sich auch in der Schweiz. Anfang März lehnte der Ständerat eine Motion von Thierry Burkart (FDP) ab. Sie hatte verlangt, dass auf eine Nichtwiederausfuhr-Erklärung verzichtet werden kann, wenn Rüstungsgüter an Staaten geliefert werden, die Schweizer Werten verpflichtet sind und die über ein entsprechendes Exportkontroll-regime verfügen. Zuvor hatte der Bundesrat Deutschland, Dänemark und Spanien die Lieferung von Munition, Panzern und Flugabwehrkanonen Schweizer Herkunft an die Ukraine untersagt.
Man macht sich so oder so schuldig
Pointiert äussert sich die Thurgauer Kirchenratspräsidentin Christina Aus der Au zum Dilemma. Eine gute Option gebe es nicht, schreibt sie: «Ich bin der Überzeugung, dass wir nicht umhinkommen, uns hier die Hände schmutzig zu machen – im Bewusstsein, dass wir damit an den Opfern des Krieges schuldig werden.» Sie sei aber auch der Ansicht, dass das Land Ukraine nicht überlebe, «wenn wir es Russland ausliefern. Und das täten wir, wenn wir die Hände in den Schoss legen und mit Bedauern auf unseren christlichen Pazifismus verweisen.» So kommt sie zum Schluss: «Damit bin ich tatsächlich für Waffenlieferungen.»
Scheinheilige Neutralitätsdebatte
Etwas zurückhaltender äussert sich der St. Galler Kirchenratspräsident Martin Schmidt: «Als Christ und Kirchenpolitiker steht für mich zunächst der Friede im Zentrum», schreibt er. Bisweilen finde er die Neutralitätsdebatte aber scheinheilig. Wer mit Begründung der Neutralität nichts sage und nichts tue, unterstütze die Aggressoren. «Und dann dürfte eine ‹neutrale› Schweiz auch nicht zulassen, dass überhaupt Waffen und Munition im eigenen Land produziert werden. Produkte werden auf ihre Nutzung hin geschaffen.» Man könne nicht mitten in Europa leben, Gelder von Machthabern entgegennehmen, die indirekt mit Kriegsverbrechen in Zusammenhang gebracht würden, und sich dann dieser geopolitischen Verantwortung entziehen. «Ich persönlich halte eine indirekte Waffenlieferung für vereinbar mit einer aktiven Neutralität.»
Text: Stefan Degen / ref.ch | Foto: Rainer Lippert – Kirchenbote SG, 21. März 2023
Was Kirchenvertreterinnen zu Waffenlieferungen sagen