Wem gehört mein Körper?

min
22.06.2021
Die Schweiz gehört in Europa zu den Ländern mit wenigen Organspendern. Das wollen politische Vorstösse ändern. Ein Unterfangen, das ethische Fragen aufwirft.

Anfang Mai hat der Nationalrat der erweiterten Widerspruchslösung bei der Organspende zugestimmt. Das bedeutet ein Systemwechsel. Bis anhin musste der Verstorbene oder seine Angehörigen einer Organspende ausdrücklich zugestimmt haben. Neu wird die Zustimmung vorausgesetzt, wenn der Spender einer Organentnahme nicht ausdrücklich widersprochen hat und seine Angehörigen keinen Einspruch erheben. Für die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle ist dies eine massive ethische Grenzüberschreitung, die das Recht auf körperliche Integrität und Unversehrtheit missachte. «Der Einzelne wird so zum Organlieferanten des Staates.»

Das «Forum für Zeitfragen» in Basel ging der Problematik der Organspende in einer digitalen Podiumsdiskussion nach. Eingeladen waren Befürworter und Gegner der neuen Vorlage.

Alois Beerli lehnt die erweiterte Widerspruchslösung ab. Für den pensionierten Hausarzt sind hirntote Menschen nicht tot, sondern sterbend. Man entnehme einem Sterbenden die Organe. Deshalb fordert der Präsident der «Ärzte und Pflegefachpersonen gegen die Organspende am Lebensende», dass die körperliche Integrität erhalten bleiben müsse. Der Arzt räumt jedoch ein, dass Hirntote nicht mehr ins Leben zurückkehren können.

Der durchschnittliche Spender ist 58 Jahre alt
Die Schweiz ist eines der drei europäischen Länder, in welcher es die Zustimmung zur Organentnahme braucht. Entsprechend warten 1500 Patienten auf ein Organ. Viele befürchteten, dass der Eingriff zu früh stattfindet, stellt Franz Immer fest. Das sei nicht der Fall, man unternehme alles, um die Patienten zu retten, so der Präsident von Swisstransplant. «Falls dies nicht gelingt, wird der Kreislauf aufrechterhalten, bis die Organe entnommen werden.» Wenn das Hirn ausfalle, sei das Leben beendet, sagt Immer. «Hirntot bedeutet formalistisch tot, da der Körper ohne die Maschinen nicht mehr lebt.»

Der durchschnittliche Spender ist 58 Jahre alt, mehrheitlich männlich und habe eine schwere Hirnblutung erlitten, sagt der Herzchirurg. Der Fall vom verunglückten Motorradfahrer sei selten.

Die Ärzte informieren die Familie vom Tod ihres Angehörigen und fragen, ob er seine Organe habe freigeben wollen. Wenn ja, bedankt sich Immer beim Verstorbenen, dass er sein Herz gespendet und so jemandem das Leben ermöglicht hat. «Das Organ ist ein Geschenk. » Der Chirurg will, dass die Würde des Toten gewahrt bleibt und die Angehörigen Abschied nehmen können.

«Es gibt kein Recht auf Organe»
«Wenn jemand seine Organe nicht spenden wolle, sei dies in Ordnung», sagt Luzius Müller. «Es gibt kein Recht auf ein Organ.» Entnehme man die Organe ohne Zustimmung, scheine es, als würde der Staat dies verordnen. Das findet der Spitalseelsorger nicht gut. Der Staat solle den Wunsch des Sterbenden und der Angehörigen ernst nehmen.

Müller stellt fest, dass die erweiterte Widerspruchslösung nahe an der heutigen Praxis sei. Man sollte den Organspendenausweis ausfüllen und den Angehörigen die Last abnehmen, sich in dieser extremen Situation entscheiden zu müssen. Die Angehörigen seien im Todesfall überfordert, stellt auch Franz Immer fest. In Deutschland habe man die Hinterbliebenen, die Nein gesagt hatten, ein Jahr später nochmals befragt. Die Hälfte würde jetzt zustimmen. Es sei wunderbar zu erleben, wie die Menschen mit den neuen Organen weiterleben, wieder eine Zukunft haben, heiraten und einen Beruf ergreifen, sagt Immer.

Alois Beerli hingegen sieht keinen Grund für eine Gesetzesänderung: «Hirntot ist eine juristische Qualifikation, keine biologische.» Die moderne Medizin habe keine Einsicht in den Sterbeprozess. Das Mysterium des Sterbens lasse sich nicht ausräumen.

Tilmann Zuber

Unsere Empfehlungen

69-Jährige im neuen Look

69-Jährige im neuen Look

Das «Wort zum Sonntag» gehört zu den ältesten Sendungen von SRF. Jetzt wurde ihr Auftritt optisch überarbeitet. Über die alte Sendung in neuem Glanz.
«Ich hätte das nicht für möglich gehalten»

«Ich hätte das nicht für möglich gehalten»

Seit einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Aus diesem Anlass rufen die Kirchen in der Schweiz zum Gebet auf. Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz (EKS), über die Zeitenwende, das Gebet und den Einsatz von Waffen.
Ein moderner Ablasshandel?

Ein moderner Ablasshandel?

Kabarettistin und Slam-Poetin Patti Basler über Spenden, Steuern und den letzten Urnengang. Absolution gebe es nicht, sagt die Schweizer Sprachkünstlerin, weder von der Kirche noch von Mutter Erde.