«Wenn ich anders abstimme, bin ich dann ein schlechter Christ?»

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21.09.2022
FDP-Kantonsrat Walter Locher wollte den Landeskirchen vorschreiben, sich in Abstimmungskämpfen zurückzuhalten. Doch die Motion wurde 2021 abgelehnt. Im Interview erläutert er seine Beweggründe.

Herr Locher, in der Ratsdebatte behaupteten Sie, die Kirchen in ihrer Äusserungsfreiheit einzuschränken stärke die Meinungsvielfalt. Wie stärkt ein Meinungsäusserungsverbot die Meinungsvielfalt?
Walter Locher: Gefordert war kein Meinungsäusserungsverbot, sondern lediglich Leitplanken bei Abstimmungen, wozu und in welcher Form sich Landeskirchen äussern. Für Bund, Kantone und Gemeinden gibt es solche Regeln bereits, festgehalten durch das Bundesgericht. Ich bin der Meinung, auch für Landeskirchen sollte es eine Verpflichtung zu einer gewissen Ausgewogenheit und Zurückhaltung geben. Die Kirche ist nicht irgendjemand. Sie ist eine öffentlich-rechtliche anerkannte Religionsgemeinschaft.

Ob diese Regeln auch für die Landeskirchen gelten, ist juristisch umstritten. Das Bundesgericht schrieb eine Beschwerde im Nachgang der Konzernverantwortungsinitiative (KVI) als gegenstandslos ab, da die Initiative ja ohnehin abgelehnt worden sei.
Ich hätte eine Klärung begrüsst. Das Bundesgericht ist einem Entscheid von gesamtschweizerischer Geltung aus formalen Gründen ausgewichen.

 

«Wenn ich anders abstimme, bin ich dann ein schlechter Christ?»Wenn sich ein Präsident äussert, legt er in der Wahrnehmung vieler die Haltung der Organisation fest.»
FDP-Kantonsrat Walter Locher

 

Es gab auch ein kirchliches Komitee gegen die KVI. Mit dem damaligen Glarner Kirchenratspräsidenten Ulrich Knoepfel war darin gar ein Ratsmitglied der Evangelischen Kirche Schweiz vertreten. Hat Sie das auch gestört?
Ich fand es gut, dass es eine Gegenstimme gibt. Das Problem war, dass offizielle Kirchen Position bezogen. Die Kirche ist eine pluralistische Glaubensgemeinschaft. Sie ist eine Heimat für Christinnen und Christen mit unterschiedlichen Meinungen.

Kirchgemeinden haben Podiumsdiskussionen zur KVI organisiert. Im «Kirchenboten» erhielten Kirchenratspräsident Martin Schmidt (pro) und Ulrich Knoepfel (kontra) gleich viel Platz.
Ich finde es aber nicht gut, dass sich die Kirchenratspräsidenten geäussert haben. Es ist nicht nur die Botschaft, die gemacht wurde, sondern auch der Absender. Wenn sich ein Präsident äussert, legt er in der Wahrnehmung vieler die Haltung der Organisation fest. Das Gleiche gilt bei Fahnen an den Kirchtürmen. Wenn sich einzelne Pfarrerinnen oder Sozialdiakone äussern, ist das etwas anderes.

Seit der Abstimmung zur KVI hat sich der Kirchenrat zu zwei Abstimmungsvorlagen geäussert: zur Ehe für alle und zum Transplantationsgesetz. Allerdings in Form eines Argumentariums und nicht mit einer konkreten Abstimmungsempfehlung.
Nehmen wir als Beispiel die Ehe für alle. Eine Abstimmungsempfehlung finde ich hier sehr heikel. Wenn ich anders abstimme, bin ich dann ein schlechter Christ? Ich darf in dieser Frage doch eine andere Haltung haben; suggeriert wird das Gegenteil.

Jetzt überschätzen Sie doch die Autorität des Kirchenrates. Als reformierter Christ lege ich meinen Verstand ja nicht am Eingang der Kirche ab. Ich hinterfrage kritisch, was der Kirchenratspräsident sagt – auch wenn er eine Empfehlung abgibt.
Bei der Einführung des Zivildienstes habe ich erlebt, wie der Pfarrer auf der Kanzel gepredigt hat, ein wahrer Christ befürworte den Zivildienst.

Das war vor mehr als 25 Jahren. Das Problem scheint nicht derart virulent zu sein.
Unangemessene Stellungnahmen gab es auch zwischendurch immer wieder, auch wenn ich das alles nicht systematisch verfolgt habe.

Ist Religion Privatsache?
Bis zu einem gewissen Grad. Was ich denke und glaube, ist meine Privatsache. Aber Private und Gemeinschaften haben das Recht, ihre Meinung nach aussen zu bekunden. Religions- und Glaubensfreiheit sind verfassungsrechtlich garantiert.

Die St. Galler Kirche bekennt sich in ihrer Verfassung zum Evangelium Jesu Christi. Ein zentrales Motiv des Evangeliums ist die Gerechtigkeit. Können Sie nachvollziehen, dass die Kirche sich dafür einsetzt?
Ja, ich finde das sogar wichtig. Die Frage ist aber – und da scheiden sich die Geister – wie setzt die Kirche das um? Nicht gut finde ich, wenn sie Gerechtigkeit herstellen will, indem sie einfach die Abstimmungsvorlage kommentiert und gewissermassen die offizielle Meinung der Kirche wiedergibt. Es wäre besser und richtig, wenn die Kirche bei zentralen Fragen dagegen allenfalls Entscheidungshilfen geben würde, an denen sich jemand bei Bedarf orientieren kann.

Interview: Stefan Degen | Foto: zVg – Kirchenbote SG, Oktober 2022

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