«Wer bei uns angefangen hat, hört so rasch nicht wieder auf»
«Wir sind ein besonderer Schlag Menschen», erzählt Mirjana Marcius, Stellenleiterin der Dargebotenen Hand Basel. Sie führt durch die 4,5 Zimmer Wohnung, in der drei festangestellte Frauen und abwechselnd 48 Ehrenamtliche arbeiten. Marcius selber ist für die Leitung der Stelle, das Fundraising und die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Rund um die Uhr sind die Mitarbeitenden abwechselnd am Telefon und mit den Mails oder von 10 bis 22 Uhr im Chatroom beschäftigt. Beim ersten Mal am Telefon habe sie schweissnasse Hände gehabt, erzählt Marcius, genau wie anfangs die meisten Freiwilligen.
In der Küche riecht es nach Kaffee. An der Wand steht «MMMM = Man muss Menschen mögen». Schokoladenkugeln, Äpfel und frische Tomaten liegen bereit. «Für den Fall, dass jemand von uns nach einem anstrengenden Telefon eine Stärkung braucht – das kommt täglich vor», schmunzelt die Teamleiterin. «Wir sind hier wie eine Grossfamilie, treffen uns in den Pausen in der Küche und tauschen uns über die Arbeit und Privates aus. Wer bei uns angefangen hat, hört so schnell nicht wieder auf.» Sie selbst sei seit 15 Jahren dabei, andere schon über 20 Jahre.
Vom Glück weitergeben
Yaël, wie eine Mitarbeiterin bei 143 mit Pseudonym heisst, leidet an einer Muskelschwäche und sagt: «Ich muss einfach etwas vom enormen Glück weitergeben, das ich in meinem Leben erfahren habe.» Sie habe ein erfülltes Leben, zwei grossartige Kinder, einen wunderbaren Ehemann und ein Umfeld, auf das sie zählen könne.
Yaël erinnert sich an viele Gespräche. Manche sind dramatisch. Er stehe auf einer Brücke und wolle springen, rief sie ein junger Mann an. Yaël hielt einen Moment inne. Es war das erste Mal, dass sie einen akut Suizidgefährdeten am Telefon hatte. Ihre Hoffnung war, so lange wie möglich Kontakt mit ihm zu halten. Eine Viertelstunde lang unterhält sich Yaël mit ihm. Dann sagt der junge Mann, es fahre ein Polizeiauto vor – und hängt abrupt ab. Zehn Minuten verstreichen, Yaël ringt mit der schwer zu ertragenden Ungewissheit. Dann geschieht etwas unfassbar Befreiendes: Der junge Mann ruft an. Er sitze im Polizeiauto und sei auf dem Weg in psychologische Betreuung. «Gott sei Dank», schiesst es Yaël durch den Kopf. Akut Suizidgefährdete habe sie zum Glück nicht jeden Tag am Telefon. «Bei uns darf auch anrufen, wer einfach mal reden oder sich Luft verschaffen möchte.»
Vor kurzem wurde die Dargebotene Hand Basel für den Prix schappo nominiert. Der Anerkennungspreis wird vom Kanton Basel-Stadt an Menschen verliehen, die sich im Bereich der Freiwilligenarbeit engagieren.
Corona und Ukraine-Krieg
Viele, die bei 143 anrufen, fühlen sich einsam. «Wer denkt, dass dies ausschliesslich ältere Personen sind, irrt», sagt Marcius. Besonders Jugendliche seien betroffen. Obwohl diese oft Hunderte virtuelle Freunde in den sozialen Medien haben, fehle ihnen im realen Leben oft der Kontakt zu Kollegen und Freunden, mit denen sie sich austauschen können.
Und während der Pandemie? «Das ist besonders spannend», sagt Marcius. «Die Nachfrage für das Telefon 143 stieg seit Jahren an. Paradoxerweise hatten wir im letzten Jahr leicht rückläufige Anrufzahlen.» Klienten, die sonst täglich anriefen, meldeten sich kaum noch. «Sie kamen mit der Situation wunderbar zurecht, weil sie es gewohnt waren, mit Schwierigkeiten umzugehen. Der Ukraine-Krieg liess die Zahl der Anrufenden dann wieder steigen», sagt Marcius. Fragen wie «Bricht jetzt ein Weltkrieg aus?» und «Wo finde ich den nächsten Luftschutzbunker?» waren häufig. Mittlerweile sei der Krieg weniger Thema.
Von der Kirche gegründet
Die Dargebotene Hand war bis 1991 unter dem Namen «Telehilfe» eine Beratungsstelle der reformierten Kirche Basel-Stadt. Die freiwilligen Mitarbeitenden bestanden damals noch zu einem grossen Teil aus Theologiestudenten, deren Dienst bei der Telehilfe an die Ausbildung angerechnet wurde.
Glaubensthemen werden für die meisten Klienten und Klientinnen dann wichtig, wenn sie sich in einer Krise befinden. «Manche fragen auch, ob wir mit ihnen beten», erzählt Mirjana Marcius. Obwohl die Dargebotene Hand konfessionell neutral sei, gebe sie Raum für Gebete, wenn ihre Mitarbeitenden einen Zugang dazu hätten. Für Marcius sind es die gleichen Werte wie in der Bibel, die in den Gesprächen Thema sind: Die Liebe und die Bereitschaft, nicht über den Nächsten zu urteilen. Was motiviert Mirjana Marcius? «Ich habe durch die Anrufenden viel über mich selber gelernt. Und ich habe mein Herz an die Freiwilligen verloren, die hier ihre Freizeit schenken.»
Michael Schäppi, kirchenbote-online
«Wer bei uns angefangen hat, hört so rasch nicht wieder auf»