Wer den Kopf bedeckt, zeigt Demut
Im zürcherischen Säuliamt gibt es das Güetli. Das ist ein wunderschöner ökologischer Bauernhof, zu dem auch eine Gärtnerei und ein Gästehaus gehören. Geführt wird das Güetli von einer christlichen Gemeinschaft. Es herrscht eine liebevolle Atmosphäre, in der Gäste seelisch auftanken. Nur etwas erscheint diesen seltsam, wenn sie ein erstes Mal an den täglichen Andachten teilnehmen: Die Mitarbeiterinnen bedecken ihr Haar mit einem Schleier, weil sie wortwörtlich nehmen, was in den meisten Bibelübersetzungen etwa so formuliert wird: Die Frau soll beim Beten ihr Haar bedecken (1. Kor 11,5-6).
Relikt aus uralten Zeiten
Im orthodoxen Judentum besteht eine Analogie: Verheiratete Frauen tragen eine Perücke. Beides ist ein Relikt aus uralten Zeiten. Rebekka, die Mutter von Jakob und Esau, verhüllte ihr Gesicht, als sie ihrem zukünftigen Mann, Isaak, zum ersten Mal begegnete (Gen 24,63-65).
Erst am Morgen realisierte der gute Mann, dass man ihm die falsche Braut untergejubelt hatte.
Das war zu jener Zeit allgemeiner Brauch und entspricht bis heute den Gepflogenheiten vieler Völker im Orient. Der Bräutigam soll das Gesicht seiner Braut erst in der Hochzeitsnacht erblicken. Dummerweise ist es dann dunkel, und zudem hat er vielleicht andere Prioritäten. Wohin das führen kann, erfahren wir aus der Jakobsgeschichte: Erst am Morgen realisierte der gute Mann, dass man ihm die falsche Braut untergejubelt hatte. Für eine Reklamation war es jetzt zu spät.
Trauer, Scham und Verzweiflung
Die Bibel erzählt nur an wenigen Stellen, wie Menschen ihr Gesicht verhüllten. Für Prostituierte war es scheinbar üblich (Gen 38,15). Ansonsten taten sie es, Männer und Frauen, wenn sie verzweifelt oder traurig waren. So David, als er aus Jerusalem fliehen musste und als sein Sohn Abischalom starb. Auch Schamgefühle konnten ein Anlass sein, das Gesicht zu verhüllen (Jer 14,3-4).
Mose legt Hülle ab
Wenn jemand in der Bibel sein Gesicht verhüllt, bedeutet das: «Ich nehme mich selber zurück. Ich bin demütig.» Fachleute sprechen vom «Selbstminderungsritus». Besonders deutlich zeigt sich das bei Mose und Elija. Wie sich ihnen Gott offenbart, verhüllen sie ihr Gesicht. «Denn er fürchtete sich, zu Gott zu blicken,» erfahren wir über Mose, als er plötzlich vor einem brennenden Dornbusch steht und dieser zu sprechen beginnt.
«Denn er fürchtete sich, zu Gott zu blicken», erfahren wir über Mose.
Doch mit der Zeit entsteht ein Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Mose und etliche Jahre später heisst es: «Wenn nun Mose hineinging vor den Herrn, um mit ihm zu reden, legte er die Hülle ab, bis er wieder heraustrat.» Allerdings musste er sich nun verhüllen, wenn er vor das Volk Israel trat. Seine Begegnung mit Gott hinterliess einen derart starken Eindruck, dass sich die Leute davon irritieren liessen (Ex 34,29-35).
Begegnung mit Gott
Vermutlich kennt niemand unter uns derartige mystische Erfahrungen. Aber genügt es nicht sowieso, wenn wir am Ende eines Gottesdienstes jeweils erfahren: «Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir; er hebe sein Angesicht über dich.»? Auch in unseren ziemlich rationalen Gottesdiensten geht es um die Begegnung mit Gott. Dieses Bewusstsein macht unabhängig davon, ob und wie uns eine Predigt anspricht. Bedecken müssen wir unser Gesicht nicht, weil er uns in der Gestalt von Jesus begegnet und er uns durch dessen Augen anschaut.
Eine Frage aber beschäftigt mich: Woran sieht man mir an, dass ich am Sonntagmorgen Gott begegnet bin? Als Mann trage ich eher keinen Schleier. Und überhaupt: Sollte man es mir nicht ohne äusseres Merkmal ansehen?
Text: Rolf Kühni, Pfarrer i. R., Sargans | Foto: epd-bild / Werner Krüper – Kirchenbote SG, Februar 2021
Wer den Kopf bedeckt, zeigt Demut