Wiborada - St. Gallen
Im Jahr 926 wurde St. Gallen von einer Gruppe aus Ungarn überfallen. Dank einer Vision konnte Wiborada das Kloster und die Stadtbevölkerung rechtzeitig warnen. Ihr Rat war ausschlaggebend, dass die Menschen, der Klosterschatz und die wertvollen Handschriften der heutigen Stiftsbibliothek gerettet wurden. Wiborada, die ihre Klause nicht verlassen wollte, bezahlte aber mit ihrem Leben. Wiborada stammte aus einem vornehmen Thurgauer Geschlecht. Schon als Kind soll sie asketisch und fürsorglich gelebt, ihre Eltern gepflegt und die 150 Psalmen auswendig gelernt haben. Als erste Frau der Welt wurde diese Märtyrerin 120 Jahre später heiliggesprochen, und zwar 1047 von Papst Clemens II.
Beinahe vergessen
Wiborada ging in den letzten Jahrhunderten nicht gerade vergessen, doch so richtig präsent war sie in der Stadt auch nicht. Zum 100. Todestag wurde ein Brunnen errichtet, die Treppe, die von der Goliathgasse ausgeht, ist ebenfalls nach ihr benannt. Der Legende nach liess sich Wiborada nur Kraut und Gemüse in ihre Zelle bringen. Auf ihrem Grab, das nach der Reformation geräumt wurde, und heute im Inneren der Kirche St. Mangen liegt, soll Fenchel gewachsen sein. Ein solches Gärtchen ist heute an der Seite der Kirche angelegt. Man kann dort verweilen und um den 2. Mai herum, dem Wiborada-Gedenktag, das Beet giessen.
Wiborada-Projekt
Im Frühjahr 2021 wurde eine Klause am historischen Ort der früheren Wohnstätte Wiboradas neu aufgebaut. Das Wiborada-Projekt war damit geboren: Jedes Jahr bis 2026 können sich im Monat Mai fünf Frauen oder Männer während je einer Woche einschliessen lassen. Sie suchen in Einsamkeit, Abgeschiedenheit und Gebet die gleiche Freiheit, die schon Wiborada gefunden hatte. Die heutigen Inklusen und Inklusinnen öffnen ihre Fenster zweimal täglich zu festen Zeiten für Besuche. Sie nehmen Anliegen und Bitten mündlich oder schriftlich entgegen und beten für die Sorgen dieser Menschen. Wie Wiborada damals werden die sie von Menschen aus St. Gallen und Umgebung versorgt. Jeden Abend unter der Woche findet eine Gebetszeit in der Kirche statt. Durch das zweite Fenster der Zelle, welches sich ins Innere der Kirche öffnet, können die Eingeschlossenen daran teilnehmen.
Eine Da-Seiende für Gott und die Menschen
Diese unnachahmliche und starke Frau, mit dem Format eines Bruder Klaus, die Bewahrerin einer Stadt, den Menschen, dem Kloster mit seinen Schätzen und den unterdessen weltberühmten Handschriften, steht mehrheitlich unerkannt im Schatten der Stadtväter Gallus, Otmar und Vadian. Dabei hätte sie als erste Beraterin in die Geschichte eingehen können, als visionäre Heldin, als Stadtmutter, als «Ich bin die, die da ist» (frei nach Ex 3,13-14f), eine Da-Seiende für Gott und für die Menschen.
Mahnmahl für vergessene Frauengeschichte
Somit zeigt sich, in St. Gallen gibt es einen klar bezeichneten Ort, der sich stellvertretend für viele zu einem Mahnmal für vergessene Frauengeschichte entwickeln könnte. Das ökumenische Projekt Wiborada 2021-2026 verpflichtet sich diesem Anliegen. Dieses Projekt, welches vor allem von Freiwilligen und vom ökumenischen städtischen Citypfarrteam getragen wird mit einem vielfältigen Programm, welches heutige Inklus:innen, Tourist:innen gleichermassen wie Schulklassen, die Stadtbevölkerung und Interessierte oder Neugierige ansprechen will. Wird es uns gelingen, einen Ort zum Leben zu erwecken, der in den vergangenen Jahrhunderten rund um ein leeres Frauengrab geschlummert hat?
Selbsterfahrung
Als ich selber am 24. April 2021 für eine Woche in die nachgebaute Zelle eingeschlossen wurde und mir bewusst ward, dass ich mich nur zwei Meter vom leeren Grab der Heiligen entfernt befand, sagte ich spontan und laut: Wiborada, steh auf! Meine eigene Erfahrung in der Woche als Eingeschlossene war Verblüffung und Erschütterung. Zunächst war ich verblüfft, dass der Zustand des Eingeschlossenseins nur im Vorfeld Bedeutung hatte, aber nicht mehr in der Woche selber. Vielmehr rückte die Dynamik der beiden Fenster in den Vordergrund. Ein Satz aus dem Johannesevangelium tauchte auf: Wir sind mitten in der Welt, aber nicht von der Welt (vgl. Joh 17,16). Nach und nach entdeckte ich die Wiboradazelle als paradoxen Ort, wo Gotteserfahrung und Offenheit für die Welt ineinander verschmelzen.
Ich bin die, die da ist
Eine Freundin sagte zu mir: «Ich will, dass du immer in der Zelle bleibst.» Was wollte sie damit sagen? Das konnte sie unmöglich ernst meinen! Es hat damit zu tun, dass jemand einfach da ist. Ich begann die Zelle als «heiligen Boden» (Ex 3,5) wahrzunehmen und die temporären Inklus:innen als die, die den ersten Namen Gottes verkörpern «Ich bin die, die da ist» (frei nach Ex 3,13-14f). Das wirkt auf eine Stadt. Zum Teil verstörend, zum Teil befreiend. Eine Inklusin, die 2022 in der Zelle lebte, schrieb: «Die Zelle ist Gott.» Eine andere: «Ich habe Musse und Zeit zum Phantasieren, Sinnieren, Sein – Dasein – bei Gott und bei mir selber, geborgen und getragen sein, «e betzli wie hächo». Eine dritte: «Die St. Wiborada-Zelle ist St. Gallens Liebesquelle…».
Die Erschütterung stellte sich gegen Ende der Woche ein mit einem inneren Bild für die Stadt St. Gallen. Ich sah sie von oben mit einem offenen und mit einem blinden Auge. Das offene Auge, das männliche Auge, befindet sich über dem Stiftsbezirk, dem UNESCO-Weltkulturerbe, über dem leeren Grab von Gallus. Hier bündelt sich die ganze Energie der Stadt. Das andere Auge, das weibliche Auge, befindet sich über St. Mangen. Es hat in letzter Zeit vielleicht geblinzelt, aber weitestgehend ist es blind.
Auf dem Quellgrund ihres Seins
Eine frühmittelalterliche Frau hat ein für heutige Begriffe unvorstellbares Leben, das es nicht nachzuahmen gilt, gelebt. Sie hat die Einsamkeit mitten in einer Stadt gewählt. Sie verkörpert einen radikalen und selbstverantworteten Lebensentwurf als Kraft, die aus Gott kommt. Das wirkt bis heute. Das lockt bis heute: Menschen, die ihren Glauben leben, die auf Gottes feine Stimme horchen, dieser trauen, entdecken mitten im Alleinsein Beziehung. Sie stossen auf dem Quellgrund ihres Seins auf eine Kraft, die Unmögliches verwandelt und starke, mutige Eigenverantwortung und Selbstwerdung geschehen lässt.
Hildegard Aepli, Initiantin, Freiwillige und erste Inklusin des Projekts
Wiborada - St. Gallen