Mit der Trauer umgehen

Wie Kirche war, wird sie nicht mehr werden

von Lars Syring
min
01.02.2024
«Palliative Kirche», so hiess der Artikel, den Lars Syring für den Mai-Magnet im vergangenen Jahr geschrieben hatte. Selten hat einer seiner Texte so viele Reaktionen ausgelöst. Der Pfarrer aus Bühler über die «Phasen der Trauerarbeit» seiner Mitmenschen, welche dem Verlust «ihrer Kirche» nachtrauern.

Eine Frau schrieb mir, sie hoffe, eines Tages zu meinem Optimismus zu finden. Nach den Turbulenzen des vergangenen Jahres brauche es vielleicht ein bisschen Mut, aus der Kirche auszutreten, hatte sie irgendwo gelesen. Aber es brauche noch viel mehr Mut, dabei zu bleiben.

 

Die erdrutschartigen Veränderungen in unserer reformierten Kirche fordern nicht nur mich heraus. Es ist offensichtlich: So, wie unsere Kirche einmal war, wird sie nicht mehr werden. Auch wenn jeder unter «unsere Kirche» nur seine eigenen Erinnerungen an «seine Kirche» meint. Das löst Trauer aus. Resignation. Und meist auch früher oder später eine gehörige Wut. Zumindest bei denjenigen, die sich noch für Kirche interessieren. Ich kann mit den sehr unterschiedlichen Reaktionen erheblich besser umgehen, seit ich sie als «Trauerarbeit» verstehe. Sie löst dieselben Prozesse aus, die auch Menschen erleben, bei denen eine schwere Krankheit diagnostiziert worden ist.

 

Früher sprachen wir bei der Trauerarbeit von «Phasen», inzwischen ist deutlich geworden, dass es eher unterschiedliche Aspekte der Trauerarbeit sind, die je individuell verarbeitet werden. Es sind eher «Muster» oder «Mechanismen» als «Phasen». Wenn alles gut geht, läuft der Weg vom Leugnen bis zur Akzeptanz. Jede und jeder trauert auf seine / ihre Art und Weise, geht den eigenen Weg.

 

Schock / Leugnen

Stellen wir uns vor: Wir bekommen plötzlich die Nachricht, dass wir an einer schweren, vielleicht sogar tödlichen Krankheit leiden. Der erste Schock sitzt tief und macht uns sprachlos. Die typische Reaktion ist dann, dass wir diese Nachricht abwehren, sie nicht wahrhaben wollen. Und auch unsere Angehörigen leisten oft Widerstand, wenn wir sie mit der Diagnose konfrontieren. «Das ist doch eine Fehldiagnose», sagen einige. Andere meine: «Das kann doch nur eine Verwechslung sein!»

 

In Bezug auf Kirche haben wir lange gedacht: Jaja, bei den anderen ist das so. Aber bei uns doch nicht. Das ist doch alles Quatsch. Bei uns ist die Kirche immer noch im Dorf. Es läuft doch gut. Der Traditionsabbruch, von dem immer die Rede ist, findet nur woanders statt, in Deutschland zum Beispiel, oder in England. Dort gibt es ganze Regionen, die «dechurched» sind, entkirchlicht. Die sind eher vor-christlich als nach-christlich. Wir haben uns eingekuschelt in unserer kleinen Ecke der Kirchenwelt. Und jetzt stellen wir fest, dass der Traditionsabbruch auch bei uns mit Macht durchschlägt. Die Selbstverständlichkeiten bröckeln weg. Aus dem Schneeball ist eine Lawine geworden. Dazu kommen die Zahlen. Die Statistik ist ziemlich eindeutig. Die Zahl der Mitglieder nimmt beständig ab. Ebenso die Zahl der Menschen, die unsere Veranstaltungen besuchen. Die Überalterung ist offensichtlich. Den sich zukünftig dramatisch verschärfenden Personalmangel bekommen inzwischen auch die Appenzeller Kirchgemeinden zu spüren, im Moment besonders drängend bei den Fachlehrpersonen Religion. Die Pensionierungswelle bei den Pfarrer:innen steht bevor. 

 

Wut

Nachdem die ersten (ir)rationalen Lösungsversuche gescheitert sind, rücken die Gefühle in den Vordergrund. Die aggressiven Impulse kanalisieren sich in Zorn und Wut! Der Schmerz, den der befürchtete Tod auslöst, braucht ein Ziel. Am besten einen Schuldigen. Wir suchen und finden unsere Opfer: Schuld sind wahlweise das medizinische Fachpersonal, Gott, das Universum. Ohne Sündenbock geht es nicht. Und jetzt kommt es zu unüberlegten Kurzschlussreaktionen wie Hass-Mails oder wilden Vorwürfen an unsere Mitmenschen.

 

Auch in Kirche grassiert die Suche nach Schuldigen. Die einfachste und sicherste Zielscheibe sind die Angestellten. Die kriegen ja sogar noch Geld für ihr Engagement in der Kirche und haben offensichtlich versagt. Sonst wäre es ja gar nicht so weit gekommen. Also haben die Pfarrer:innen entweder zu modern oder zu konservativ gepredigt. Haben zu wenige oder zu viele Besuche gemacht. Reden zu unverständlich oder zu klar. Sind zu unorganisiert. Die Musiker:innen spielen zu klassisch oder zu modern. Sicher nicht die Musik, die jetzt nötig wäre. Sie müssten doch nur… In eine ähnliche Richtung geht das Lamento über die Fachlehrpersonen Religion, die ja den Boden legen für den Gemeindeaufbau. Oder die Mesmersleute, die «ihre» Kirche ja nur nach ihren Bedürfnissen einrichten, zu sehr oder zu wenig gastfreundlich sind. Und dann geht es auf landeskirchlicher Ebene weiter. Die hätten doch schon vor Jahren… Und überhaupt: Die drehen sich nur um sich selbst. Immer diese Gesetze, die uns nur im Weg stehen. Schliesslich kommt auch der Vorwurf an die Menschen, die unsere Angebote nicht mehr nutzen.

 

Einige ziehen jetzt die Konsequenz und treten aus der Kirche aus. Sie verlassen die sterbende Patientin. Eine andere Strategie ist, die Aggression auf sich selbst zu beziehen und sich selbst Vorwürfe zu machen. «Ach hätte ich doch damals… dann wäre alles wieder gut gekommen.» «Wäre ich doch damals nicht so unaufmerksam gewesen, hätte sich das alles noch verhindern lassen.» Dahinter steckt die Hoffnung, dass ich, was ich selbst verschuldet habe, auch wieder selbst gerade biegen kann.

 

In dieser «Phase» sind wir noch nicht bereit, realistisch unseren eigenen Anteil an der neuen Situation zu sehen.

 

Verhandeln

Jetzt kommt es zu «magischen» Denkbewegungen, die sich an das Muster «Leugnen» anlehnen. Der Gedanke keimt, unser Schicksal mit bestimmten Handlungen abwenden zu können. Wir versprechen uns selbst, ab jetzt immer gesund zu essen, das Rauchen einzustellen, nie wieder Alkohol zu trinken oder andere vermeintlich gesundheitsschädigende Angewohnheiten abzustellen. Wir denken: «Ich tue etwas Gutes und bekomme dafür etwas Gutes zurück.» Wir fassen dann unsere Krankheit als eine Art Strafe für schlechtes Verhalten auf. Und das sollte sich doch durch richtiges, besseres Verhalten verändern lassen. Hier schlägt die Stunde der neuen Ratgeber. Alternative Heilverfahren rücken in den Blick.

 

In der Kirche führt dieses Muster zum Verklären bestimmter Zeiten und Epochen, in denen alles besser war. Zum Beispiel die Reformation. Das war doch ein Aufbruch! Auf einmal war die Bibel wieder im Zentrum. Wenn wir das wieder täten, dann… Oder die alte Kirche, die hatte doch noch konkrete Wege, die Menschen in den Machtbereich des Heiligen führen konnten. Da war die Erfahrung Gottes noch viel intensiver. Daran müssten wir wieder anknüpfen, dann… Oder noch weiter zurück, damals, Jesus. Der konnte was. Da gab es noch echte Heilungen. Wenn wir da wieder…, dann…

Immer wieder haben Generationen vor uns genau diese Rückgriffe versucht. Und all das hat uns jetzt zu der Situation geführt, in der wir leben. Auch die alternativen Heilsversprechen haben uns nicht weiter gebracht. Soziologische Interpretationen, marktwirtschaftliche Analysen oder Impulse aus anderen spirituellen Traditionen: Es ändert nichts.

In diesem Zusammenhang verstehe ich auch den neuen Finanzausgleich unserer Landeskirche, der für einige Kirchgemeinden schnell existenzbedrohend sein wird. Die Idee, durch finanziellen Druck diese Kirchgemeinden zum Handeln zu bewegen, zeigt auch nur die Hoffnung, dass sie dann schon wieder irgendwie auf Kurs kommen. Es ist die Reaktion der Angehörigen, die das Leiden der Patientin nicht mehr mit ansehen können.

 

Die Muster «Wut» und «Verhandeln» führen in Kirche schnell zu blindem Aktionismus. Neue Projekte werden aus dem Boden gestampft, Überstunden aufgehäuft. Wir müssten… wir sollten… Die einen geraten so in das Burnout, weil sie den Eindruck haben – oder vermittelt bekommen – sie könnten Kirche retten. Die anderen haben andere körperliche oder psychische Symptome oder greifen zu Suchtmitteln. Und wer sorgfältig auf seinen Kräftehaushalt achtet, hört Vorwürfe.

Wenn das eine Gefäss zerbricht, wird sich ein anderes, geeigneteres Gefäss für diesen Schatz finden lassen.

Depression

Ab jetzt gibt es kein Zurück mehr. Nachdem wir uns längere Zeit erfolglos gewehrt haben, sehen wir die Situation jetzt als unvermeidbar vor Augen. Wir fühlen uns hilflos, schwach, allein. Unsere Angehörigen können mit der Situation oft selbst nicht umgehen und sind ebenfalls trostlos.

 

Wir igeln uns ein in der Höhle, in der der Kummer wohnt, wie Paul Gerhardt im 30jährigen Krieg dichtete. Das Ende «unserer Kirche» ist nahe und wir können es nicht mehr ändern. Auch in Kirche sind wir hilflos und resignieren. Was soll das ganze überhaupt noch? Handlungsimpulse ersticken im Keim.

 

Akzeptanz

Mit der Zeit machen wir, wenn es gut geht, unseren Frieden mit der neuen Situation. Wir versuchen, unseren Alltag neben der ganzen Therapie einigermassen angenehm und in Würde zu bewältigen. Wir lernen, das Leben zu schätzen und nutzen die verbleibende Zeit so gut es geht. Vielleicht sind wir dann irgendwann auch in der Lage, unsere trauernden Angehörigen, die in ihrer Trauer an einem anderen Ort stehen, zu beruhigen und zu trösten. Aber natürlich gibt es auch bei uns immer mal wieder Momente, in denen wir sehr traurig und verzweifelt sind. Wie auf einer Spirale kommen wir immer mal wieder an den einzelnen Mustern vorbei.

 

Es ist wie es ist. Die Veränderungen, in denen «unsere Kirche» steckt, nehmen ihren Lauf. Aber wir sehen es realistisch: Wir haben keine Ahnung, wohin sie uns führen. Wir vertrauen darauf, dass wir nicht alleine Kirche machen. Dass Kirche kein Selbstzweck ist. Kirche ist für Menschen da. Ihr Haupt ist Christus. Und niemand von uns. Niemand von uns kann Kirche retten. Das sind Allmachtsphantasien, narzisstischer Grössenwahn, der schnell zu Versagensgefühlen kippt. Und selbst wenn sich die Sozialform der Kirche massiv verändern wird, also die Gestalt der Kirche, wie wir sie erinnern: Ich mache mir keinerlei Sorgen um Gott und seine Botschaft. Paulus schrieb von einem Schatz, den wir in irdenen Gefässen haben. Und wenn das eine Gefäss zerbricht, wird sich ein anderes, geeigneteres Gefäss für diesen Schatz finden lassen.

Und bis wir das neue Gefäss erkennen können, braucht es jetzt ganz viel Trauerarbeit und genauso viel Verständnis für einander und für den Prozess, in dem wir unterwegs sind. Ich bitte darum, dass wir sorgfältig und grosszügig miteinander umgehen. Dass wir uns verzeihen lernen. Dass wir lernen, Entscheidungen zu korrigieren, wenn wir mehr wissen. Und dass wir Zeit haben, um aufmerksam sein zu können und zu warten, was da Neues geboren werden will. Und dann, nach der Geburt des Neuen, wird der Jubel gross sein. Bis dahin wird es aber noch dauern. Wir haben genügend Zeit zum Abschied nehmen. Und wir denken daran, dass wir nicht auf eine Wiederbelebung hoffen. Unsere Hoffnung ist die Auferstehung, die Neuschöpfung.

 

Die sich entfaltenden Möglichkeiten Gottes spiegelt ein Gebet wider, das ich auf Iona gelernt habe. Darin finde ich den Mut, um trotz allem in der Kirche zu bleiben und mich weiter zu engagieren. Wenn Du magst, bete mit:

 

«Gott, Du bist in jedem von uns. Es ist nicht nur das Innere der Kirchenmauern, es ist unser eigenes inneres Wesen, das Du erneuert hast. / Wir sind dein Tempel, nicht mit menschlichen Händen gemacht. Wir sind Dein Leib. / Wenn jede Mauer bröckeln und jede Kirche verfallen sollte: Wir sind der Ort, in dem Du wohnst. Inniger bist Du uns als unser Atmen, näher als Hände und Füsse. Durch unsere Augen schaust Du mit Mitgefühl auf diese Welt. / Wir segnen Dich für diese Kirche. Dass Du uns die Richtung zeigst. Dass Du uns befreist. Dass Deine Gegenwart unter uns ist. / Schick uns nach draussen, Gott, raus aus unserer Komfortzone, raus aus der falsch verstandenen Heiligkeit, dorthin, wo Nationen an den Kreuzungen der Welt aufeinanderprallen. / So soll deine Kirche auch weiterhin ihre Berechtigung haben; und Deine Leute sollen Grund finden, Deinen Namen zu segnen. Amen.»

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