Wie man trotz Hektik zur Ruhe kommt
«Stelle dich einmal gegen Mittag an eine belebte Strassenkreuzung der Grossstadt», schrieb 1908 der Musikkritiker Richard Batka, «da poltert, kollert, knarrt, läutet, pfeift, schreit, tollt es oft durcheinander, dass man den Lärm als körperlichen Schmerz empfindet.» Im selben Jahr gründete der deutsche Publizist Theodor Lessing einen «Antilärmverein». Der Verein gab eine Zeitschrift he-
raus. Ihr Name: «Der Antirüpel. Das Recht auf Stille.» Lärm und Hektik waren für Lessing Drogen, mit denen der moderne Mensch sich zu betäuben und die Nichtigkeit seiner Existenz zu verdrängen suchte.
Reizüberflutung vor 150 Jahren
Damals, zur Zeit der Industrialisierung, schien sich die Welt immer schneller und schneller zu drehen. Die Technik entwickelte sich rasant, und manch einer war damit überfordert. Zwischen 1860 und 1900 war beispielsweise die «Eisenbahnkrankheit» verbreitet. Symptome waren Zittern, Ermüdung und nervöse Reizbarkeit. Als Ursache wurde das Dröhnen und Rütteln der Dampflokomotiven vermutet. Auch die für damalige Verhältnisse hohe Geschwindigkeit von sage und schreibe 25 km/h wurde dafür verantwortlich gemacht: Die Menschen seien sich die schnell wechselnden optischen Eindrücke nicht gewohnt.
«Man zittert, kriegt Schweissausbrüche, die Hände werden kalt und der Blutdruck steigt.»
Ulrike Ehlert, Prof. für Psychologie und Psychotherapie
Auch heute klagt man über Reizüberflutung und Stress, der durch die ständige Erreichbarkeit hervorgerufen wird: Schnell die Instagram-Storys von Freunden und Freunden von Freunden checken, ein lustiges Tiktok-Filmchen reinziehen – die dauern ja nur ein paar Sekunden –, bis –«Bling!» – die nächste Whatsapp-Nachricht reinflattert.
Stress kann krankmachen. Was aber ist eigentlich Stress? «Stress ist ein Gefühl, das in jeder Situation entstehen kann», sagt Ulrike Ehlert, Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich. «Wenn ich eine Situation als bedrohlich empfinde, entsteht Angst, Wut oder Ärger. Dann merke ich: Ui, jetzt weiss ich nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll.»
Stressempfinden unterschiedlich
Welche Situation Stress auslöst, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. «Als ich vor 20 Jahren in die Schweiz kam und Auto fuhr», erläutert Ehlert, «löste Schnee auf der Strasse bei mir Schweissausbrüche aus.» Manche Menschen sprechen ungern vor grösseren Gruppen, etwa bei einem Referat. Andere haben Mühe, mit Zeitdruck umzugehen. In solchen als bedrohlich empfundenen Situationen reagiert der Körper: «Man zittert, kriegt Schweissausbrüche, die Hände werden kalt und der Blutdruck steigt», so Ehlert.
Angst vor Pensionierung
Allerdings gibt es auch gesunden Stress. Er treibt an und motiviert. Manche Menschen laufen erst unter Druck zu Hochform auf. Ulrike Ehlert gibt ein Beispiel: «Für Leute, die auf den Ruhestand zugehen und sich stark mit ihrer Arbeit identifizieren, ist es furchtbar, mit Arbeiten aufzuhören», analysiert die Psychologin. «Sie haben Angst, dass dann alles kollabiert, ihr ganzes Wertesystem. Ihr intensives Arbeiten ist plötzlich nicht mehr gefragt.» Diese Lücke müsse gefüllt werden. «So entsteht Stress dadurch, dass er weg ist.»
Die Anfänger zeigten sowohl bei fröhlichen und bedrohlichen Bildern Hirnaktivität, die Meditationserfahrenen nur bei fröhlichen.
Ungesunder Stress äussert sich darin, dass es einem nicht gut geht. Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Schlafstörungen und Gereiztheit sind laut Ehlert gängige Symptome. Dann läuft man Gefahr, in ein Burn-out hineinzuschlittern. «Burn-out ist aber noch keine Krankheit», präzisiert Ehlert, «sondern ein Übergangszustand zu einer Krankheit, etwa zu Depression, Alkoholismus, Bluthochdruck oder Herzinfarkt.» Während des Burn-outs sei es noch möglich, das Steuer herumzureissen, indem man die Lebensumstände ändere, zum Beispiel die Stelle wechsle.
Wer Meditiert, hat weniger Angst
Es ist also wichtig, im stressigen Alltag immer wieder zur Ruhe zu kommen. Hilft vielleicht Meditation dabei? «Dazu gibt es spannende Studien über indische Meditationspraktiken», weiss Psychologieprofessorin Ehlert. «Man hat erfahrene Meditierende, die täglich mehrere Stunden meditieren, mit Anfängern verglichen.» Beiden habe man Ekman-Friesen-Bilder gezeigt – das sind Bilder von fröhlichen und bedrohlichen Gesichtern. «Mit Magnetresonanztomografie hat man untersucht, wie die Meditierenden darauf reagieren.» Fazit: Die Anfänger zeigten sowohl bei fröhlichen und bedrohlichen Bildern Hirnaktivität, die Meditationserfahrenen nur bei fröhlichen, bei bedrohlichen Bilder aber kaum. «Sie hatten einfach keine Angst», fasst Ehlert zusammen, «ihre Hirnaktivität hat auf bedrohliche Gesichter nicht reagiert – auf die freundlichen Gesichter aber schon.»
Kuschelhormon sorgt für Entspannung
Wenn man sich entspannt, hat das Einfluss auf den ganzen Körper. Dann werde vermehrt Oxytozin freigesetzt, ein Wohlfühl- und Kuschelhormon, erklärt Ulrike Ehlert. «Die Herz-Kreislauf-Parameter nehmen ab, es kommt zu einer parasympathischen Aktivierung.» So entstehe ein wohliges Gefühl der Entspannung. «Das geht bis zu Müdigkeit und Einschlafen.»
Rosenkranzbeten hilft
Wie das Stressempfinden ist auch die geeignete Form der Entspannung von Mensch zu Mensch verschieden. «Vielleicht geht man im Wald spazieren, macht Sport, arbeitet im Garten oder spielt mit einem Tier», sagt Ehlert. Andere Möglichkeiten seien Yoga, Meditation oder Rosenkranzbeten. «Überhaupt alle Formen von Beten», fügt sie an, «vor allem, wenn sie Wiederholungen beinhalten.» Das repetitive Element – wie beispielsweise beim Singen von Taizé-Liedern – habe einen beruhigenden Effekt. «Man tut es einfach, und muss gar nicht gross über den Sinn nachdenken.»
Zu einem ähnlichen Schluss kommt Thomas Feiner, Direktor des Münchner Instituts für Neurofeedback, wie er gegenüber SRF in der Sendung «Puls» sagt. Er hat 5000 Hirnstrommessungen an Meditierenden durchgeführt. Das Resultat: Es scheint nicht so darauf anzukommen, was man tut, um zur Ruhe zu kommen, sondern, dass man es tut. Wichtig sei, so Feiner, «dass man spürt und lernt wahrzunehmen, dass man zur Ruhe kommt».
Manchmal helfen auch kleine Dinge, um Ruhe zu finden. 1908 – im selben Jahr, in dem Richard Batka den Höllenlärm der Grossstadt beklagte und Theodor Lessing seinen Antilärmverein gründete – ging die erste Packung Ohropax über den Ladentisch.
Text: Stefan Degen | Fotos: Pixabay / kid – Kirchenbote SG, Januar 2023
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