«Wir marschierten 1989 und die Apartheid endete»

von Rommel Roberts
min
06.01.2022
Der südafrikanische Theologe Rommel Roberts ist ein langjähriger Wegbegleiter des kürzlich verstorbenen Erzbischofs und Friedensnobelpreisträgers Desmond Tutu im Kampf gegen die Apartheid. Hier wirft der Menschenrechtsaktivist einen persönlichen Blick auf die «Ikone» Tutu.

Erzbischof Tutu war ein tief spiritueller Mensch. Tagtäglich nahm er sich Zeit für Stille und Gebet. Das unterschied ihn von den meisten anderen Führungspersönlichkeiten in Südafrika, selbst von Nelson Mandela. Erzbischof Tutu liess sich nie von Machtkämpfen, politischem Kalkül oder der Masse beeinflussen. Konfrontiert mit der Bedrohung seines eigenen Lebens oder dem anderer, blieb er ruhig und konzentrierte sich darauf, zu helfen. Er war überzeugt, für alle Kinder Gottes da zu sein

Kampf gegen die Apartheidsregierung
Meine Arbeit mit Bischof Tutu begann 1978, als ich ihn das erste Mal im Büro des Südafrikanischen Kirchenrats (South African Council of Churches SACC) in Johannesburg traf. Er war gerade als Generalsekretär der Organisation eingesetzt worden und bat mich, sein nationaler Entwicklungsbeauftragterzu werden. Ich sollte in die verschiedenen Teile des Landes reisen und mich dort mit Kirchenvertretern treffen, die sich für die Menschenrechte engagierten. Zu meiner Aufgabe gehörte es, Verbindungen herzustellen zwischen den internationalen Geldgebern, den Unterstützern aus Europa und dem Weltkirchenrat. Die verzweifelten Südafrikaner brauchten diesen Beistand gegen den brutalen Apparat der Apartheidsregierung. Etliche Aktivisten waren im Gefängnis schon getötet worden.

Kirchengemeinden waren gespalten
Bischof Tutu agierte in einem hochgradig explosiven Umfeld. Der Staat ging rigoros gegen die Antiapartheidsaktionen vor. Die Kirchengemeinden waren gespalten. Die konservativen Kirchen, angeführt von der Niederländisch-Reformierten Kirche, rechtfertigten die Politik der Apartheid, während andere diese kritisierten.

Bischof Tutu wurde schnell zur Stimme der Antiapartheid, indem er den Asengasi Fonds gründete, aus dem er Gelder an die Familien der Gefangenen oder der im Gefängnis Ermordeten zahlte. Der Apartheidsstaat beschuldigte Bischof Tutu, Untergrundorganisationen zu unterstützen. Er konnte jedoch keine Beweise vorlegen, um ihn zu verurteilen.

Bischof Tutus erste wegweisende Rede
Die Apartheidsregierung erklärte bestimmte Gebiete zu «Homelands», in die sie die Schwarzen umsiedelte. Ich selbst hatte in diesen Lagern erlebt, wie dort die Menschen in Folge der Apartheidspolitik starben.

Bischof Tutu beschloss, die Umsiedlungscamps in der Provinz Ostkap zu besuchen. In Oxton fragte Tutu ein kleines Mädchen, was sie in den letzten Tagen gegessen habe. Ihre Antwort war «Tee». Dies machte Bischof Tutu wütend und entschlossen.

In der Township Crossroads hielt Bischof Tutu seine erste wegweisende Rede, in der er die Regierung und ihre «bösartige» Politik verurteilte. Das Leiden und der unerschütterliche Kampf des einfachen Volkes waren Anstoss und Basis für seine wichtigsten Reden. Ständig waren die Journalisten anwesend und trugen die Botschaft in die Welt.

Bischof Tutu hielt seine eindringlichsten Reden in den illegalen Siedlungen der Townships Nyanga und Crossroads. Er rief zu bürgerlichem Ungehorsam und zu internationalen Sanktionen gegen die Apartheid auf. Das verhalf dem gewaltlosen Kampf national und international zu grösserer Dynamik. Und Bischof Tutu war die Stimme, die dieser Dynamik Ausdruck verlieh. Den Höhepunkt bildete 1989 der berühmte Marsch in Kapstadt.

Haft und Folter
In den ersten Jahren von Tutus öffentlichen Reden griff ihn das Apartheidsregime erbittert an. Es schreckte jedoch vor seiner Festnahme zurück. Stattdessen nahm es die Leute in seinem Umfeld ins Visier. Viele wurden verhaftet, darunter ich selbst. Der öffentliche Aufschrei wie auch eine Erklärung von Bischof Tutu führten schliesslich zu meiner Freilassung – nach vielen Wochen Haft und Folter.

Erfolgreicher Kampf gegen Ungleichheiten
Der Staat und die Unternehmen wollten die Fahrpreise des öffentlichen Verkehrs erhöhen; davon profitierten die weissen Gemeinden, die nur einmal zahlten, während die Schwarzen drei Busse nehmen mussten und somit das Dreifache zahlten. Vor Gericht gelang es mir, die Entscheidung der staatlichen Verkehrsbetriebe rückgängig zu machen. Der grosse Sieg führte zur Entstehung des Legal Resources Centre, der juristischen Institution, die dazu beitragen sollte, viele vom Apartheidsregime durchgesetzte Ungleichheiten zu bekämpfen.

Später führten weitere Intervention des Apartheidsstaates zum Busboykott in Cape Town, dem andere Städte folgten. Der Boykott vereinte die Bewegung und endete 1989 im berühmten Marsch von Erzbischof Tutu in Kapstadt. Erzbischof Tutu erinnerte sich manchmal scherzhaft daran mit den Worten «Wir marschierten 1989 und die Apartheid endete. Wir marschierten 1989 und die Berliner Mauer fiel.»

Ende der verhassten Halskrausenmorde
Das Jahr 1985 war geprägt von den Versuchen, die Bewohner der Siedlungen einzuschüchtern, damit sie sich mit verschiedenen Boykottaktionen gegen den Staat solidarisieren. Die sogenannten Volksgerichte, die hauptsächlich von Jugendlichen geleitet wurden, waren barbarisch. Man ermordete die Menschen, indem man ihnen einen brennenden Autoreifen um den Hals legte. Das Ziel dieser «Necklacings» war es, jeden in Angst und Schrecken zu versetzen, der es wagte, radikale Elemente in der Widerstandsbewegung kritisch zu hinterfragen.

Die Anschuldigungen beruhten meistens auf Verleumdungen und richteten sich gegen angebliche Spitzel der Apartheidsregierung. Jedem, der sich dieser Form der Vergeltung entgegenstellte, drohte der Tod. Bischof Tutu verabscheute diese Aktionen zutiefst. Während dieser Ära spielte Erzbischof Tutu eine entscheidende Rolle, um dem «Necklacing» entgegenzutreten.

Wir suchten die Orte gezielt auf und konnten diese grausame Barbarei mit Hilfe von Gebetsgruppen tatsächlich beenden. «Necklacing» veranlasste Erzbischof Tutu zur Aussage, dass er bereit wäre, das Land zu verlassen, wenn dieses barbarische Vorgehen nicht aufhört. Durch seinen Einfluss hat es aufgehört.

Der Traum von der Regenbogennation
1996 wurde Bischof Tutu gebeten, die Südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission) zu leiten. Das war eine der schwierigsten Aufgaben, die man einem Menschen aufbürden konnte. Auf der einen Seite gab es den Schrei nach Gerechtigkeit und Wahrheit, begleitet von Rassismus und gefolgt von Rufen nach Vergeltung und der Forderung, Nürnberger Prozesse durchzuführen. Auf der anderen Seite gab es die Rufe der Unschuldigen und Unwissenden und die Notwendigkeit, eine neue Nation aufzubauen – Desmond Tutus Regenbogennation, die niemals auf dem Blut der Rache gebildet werden konnte, weil die Zukunft und das Schicksal des Landes auf dem Erfolg der Widerstandskraft und der Fähigkeit zur Versöhnung und Vergebung beruhten.

Tutus Aufgabe war es, unter Tränen den Berichten der Opfer und den Schuldbekenntnissen der Täter zuzuhören, Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit zu verbinden und Wege zu echter Versöhnung zu schaffen – ein höchst schwieriger Weg, der aller Wahrscheinlichkeit nach hundert Jahre oder mehr dauern würde. Das war Desmond Tutus Forderung und Vision der Regenbogennation, die heute trotz aller Schwierigkeiten auf dieses Ziel hinsteuert. Dies war das größte Geschenk des Erzbischofs an unser Land und die ganze Welt.

Rommel Roberts, kirchenbote-online

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