«Züri-Bueb» ortet einen Kirchenboom

von Sebastian Schneider
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17.01.2024
Kirchenbesuche nehmen in der Stadt Zürich massiv zu. Pfarrer Christoph Sigrist spricht von einer Vervielfachung der Besucherzahl im Grossmünster. Mit viel Selbstbewusstsein und Beispielen macht er in einem Referat in Rotmonten dem Publikum den interreligiösen Weg schmackhaft. Andreas Schwendener zeichnete den Vortrag per Video auf.

«War das jemandem zu extrem?» Pfarrer Christoph Sigrist schaut prüfend ins Publikum und wartet auf eine Reaktion. Niemand im vollen Pfarreisaal Rotmonten geht auf die Frage ein. Keine Widerreden also gegen den Inhalt seines Referats und kein Votum gegen den interreligiösen Weg. Christoph Sigrist, der Ende Monat als Pfarrer des Zürcher Grossmünsters zurücktritt, ist diesen Sonntag zu Besuch im St.Galler Hügelquartier Rotmonten. Hier wollen die Glaubensgemeinschaften der Evangelisch-reformierten und der Katholischen Kirche zusammenrücken. Mit dem Besuch der Koryphäe Christoph Sigrist starten sie den öffentlichen Prozess, der mutmasslich zur Nutzung eines gemeinsamen Kirchenraumes führt. Ähnlich wie im Riethüsli-Quartier, wo man sich vor vier Jahren auf einen gemeinsamen Ort geeinigt hat.

Drei Risiken eingehen

Schon zu Beginn seines Besuchs macht Christoph Sigrist klar, welchen Weg er als urbaner Pfarrer eingeschlagen hat. In seiner Ansprache am ökumenischen Gottesdienst begrüsst er Atheistinnen und Agnostiker ebenso wie Katholiken und Reformierte. Später an diesem Tag wird er in seinem Referat erklären, weshalb ihm als Pfarrer auch die Atheisten wichtig sind. Im Gottesdienst zuvor jedoch reist der 60-Jährige zurück in die Vergangenheit und setzt da ein, wo er der Liebe wegen als 26-Jähriger «Züri-Bueb» in die Ostschweiz kam. Im toggenburgischen Stein musste er gleich zu Beginn aufgrund einer grossen Beerdigung erste ökumenische Schritte wagen. Später entwickelte er als Pfarrer der St.Galler St.Laurenzen-Kirche die interreligiöse Arbeit weiter. Rückblickend sagt er: «Ich bin dankbar dafür, dass ich in Stein und in der Stadt St. Gallen ein anderer geworden bin.» Ein anderer zu werden, dies sei das dritte Risiko, das man auf dem interreligiösen Weg eingehe. Das erste sei Vertrauen, das zweite das Teilen.

 

Orte der Stille und des Gewissens

«Stadtzürcher Kirchen verzeichnen mehr Besuche als der Züri-Zoo», sagt Sigrist im Vortrag nach dem Gottesdienst und erntet ein Schmunzeln der circa 60 Anwesenden im Pfarreisaal der Katholischen Kirche Rotmonten. Tatsächlich hätten sich die Kirchenbesuche im Grossmünster in den vergangenen 20 Jahren mehr als versechsfacht. Gesellschaftliche Veränderungen führen laut Sigrist zu einer massiven Nutzungsverschiebung. Im heutigen urbanen Raum werden die Kirchen oft als Orte der Stille aufgesucht. Und halt nicht nur von Mitgliedern der Landeskirchen, sondern auch von anderen Menschen und Glaubensgemeinschaften: «Am Montag beispielsweise sind Atheisten im Grossmünster, am Freitag Muslimas». In seiner circa 20-jährigen Tätigkeit als Grossmünster-Pfarrer ist die interreligiöse Arbeit zu Sigrists Alltag geworden. So nennt er als Beispiel ein russisch-orthodoxes Paar, das ihn jüngst im Grossmünster aufsuchte. Er habe die aus der Ukraine geflüchtete Frau und den russischen ETH-Doktoranden spontan verheiratet, und die beiden seien nun regelmässige Besucher des Grossmünsters.

Unverzichtbare Kirchenräume

Dem Verlust der institutionellen Dimension der Kirche trauert Sigrist nicht nach: «die darf verschwinden». Absolut unverzichtbar für die Gesellschaft blieben aber die Kirchenräume. Sie böten Stille, Stallwärme und für Flüchtende Asyl. Sie dienten als Gedächtnis in einer Zeit des Internets, der Social Media und des Vergessens. Nicht zuletzt seien die Kirchen ein Ort des Gewissens. Ein Ort des Humanismus, wo die Menschenrechte verteidigt würden. Ein Ort, wo die christliche Wertegesellschaft seine Kraft schöpft.  

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